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Todesdämmerung

Todesdämmerung

Titel: Todesdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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versagen?«
    Sie hatte recht. Er schuldete ihr alles. Wenn sie nicht gewesen wäre, würde er immer noch mit Rauschgift handeln, in der Gosse leben, verzehrt von Haß. Wenn er sie jetzt im Stich ließ, wo war seine Ehre, seine Dankbarkeit? Wenn er sie im Stich ließ, würde er dann nicht ebenso sicher in sein altes Leben zurückgleiten, als wenn er das Messer jetzt so gebrauchte, wie sie es verlangte?
    »Bitte«, sagte Christine Scavello. »O Gott, bitte, tun Sie meinem Kind nicht weh.«
    »Schick ihn für immer in die Hölle zurück!« schrie Grace.
    Kyle hatte das Gefühl, er werde in Stücke gerissen. Er hatte nur wenige Jahre lang moralische Entscheidungen getroffen, nicht lange genug, daß das für ihn zur unbewußten Ge wohnheit hätte werden können, nicht lange genug, um mit einem solchen Dilemma fertig zu werden. Er merkte, daß ihm die Tränen über die Wangen rannen.
    Der Blick des Jungen hob sich von der Spitze seines Mes sers.
    Kyle begegnete den Augen des Kindes, und sie versetzten ihm einen Schock.
    »Töte ihn!« sagte Grace.
    Kyle zitterte heftig.
    Der Junge zitterte ebenfalls.
    Ihre Blicke hatten sich nicht nur aneinander festgeklammert, sondern sie waren miteinander verschmolzen. Kyle hatte den Eindruck, er könne nicht nur durch seine eigenen Augen sehen, sondern auch durch die des Jungen. Es war eine fast magische Empfindung, so als wäre er zugleich er selbst und das Kind, gleichzeitig Angreifer und Opfer. Er fühlte sich groß und gefährlich und zugleich doch auch klein und hilflos. Er war plötzlich benommen und zunehmend verwirrt. Sein Blick wurde einen Augenblick lang unscharf. Dann sah er — oder bildete sich ein zu sehen —, wie er über dem Kind aufragte, sah sich aus dem Blickwinkel des Jungen, so als wäre er Joey Scavello. Es war ein verblüffender Augenblick der Einsicht, fremdartig und desorientierend, fast ein hellseherisches Erlebnis. Er blickte durch die Augen des Jungen auf sich selbst und war von seinem Aussehen schockiert, von der Wildheit seines Gesichts, vom Wahnsinn seines Angriffs. Ein eisiger Schauder lief ihm über den Nacken, und der Atem stockte ihm. Diese Vision seiner selbst war wie ein Hammerschlag auf den Schädel, psychologisch erschütternd. Er blinzelte, und der Augenblick der Einsicht verging, und er war wieder er selbst, wenn auch mit schrecklichen Kopfschmerzen und leichtem Schwindel. Jetzt endlich wußte er, was er tun mußte.
    Zu Christines Überraschung wandte sich der Riese von Joey ab und warf das Messer in die Flammen hinter Charlie. Funken und Asche flogen auf, wie ein Schwärm Glühwürmchen.
    »Nein!« schrie Grace Spivey.
    »Für mich ist mit dem Töten Schluß«, sagte der große Mann, und die Tränen strömten über seine Wangen, weichten das harte, gefährliche Bild auf, das er bot, so wie Regen auf einer Fensterscheibe den Anblick dahinter verschwommen und weich erscheinen ließ.
    »Nein!« wiederholte Spivey.
    »Es ist unrecht«, sagte er. »Selbst wenn ich es für dich tue, ist es unrecht.«
    »Der Teufel hat dir diesen Gedanken in den Kopf gesetzt«, warnte die alte Frau.
    »Nein, Mutter Grace. Das hast du getan.«
    »Der Teufel!« beharrte sie verzweifelt. »Der Teufel war es!«
    Der Riese zögerte, wischte sich mit den großen Händen über das Gesicht.
    Christine hielt den Atem an und beobachtete die Konfrontation mit Hoffnung und Furcht zugleich. Wenn die ses Frankensteinsche Geschöpf sich tatsächlich gegen seine Herrin wandte, konnte er ein machtvoller Verbündeter sein, aber im Augenblick schien er nicht hinreichend stabil, um ihnen aus ihrer Krise zu helfen. Obwohl er das Messer weggeworfen hatte, wirkte er verwirrt, geistig wie emotional aufgewühlt und sogar etwas unsicher auf den Beinen. So wie er sich die Tränen wegwischte, schien er Schmerzen zu empfinden, fast als hätte man ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt. Es war immer noch gut möglich, daß er sich jeden Augenblick wieder gegen Joey wandte und ihn tötete.
    »Der Teufel hat dir diesen Zweifel in den Kopf gesetzt«, beharrte Grace Spivey und rückte dem Riesen näher, schrie ihn an. »Der Teufel, der Teufel, der Teufel!«
    Er nahm die von Tränen nassen Hände vom Gesicht und sah die alte Frau blinzelnd an. »Wenn es der Teufel war, dann ist er nicht ganz schlecht. Nicht ganz schlecht, wenn er will, daß ich nie wieder töte.« Er taumelte auf den Tunnel zu, der aus der Höhle ins Freie führte, blieb stehen und lehnte sich müde gegen die Wand, als brauchte er

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