Todesdämmerung
auf.
Barlowe erhob sich ebenfalls, ragte über ihr auf.
»Ich muß dringend pinkeln«, sagte sie. »Ganz dringend.« Sie schnitt eine Grimasse und legte sich eine Hand auf den Leib. »Kann man hier den nirgends pinkeln? Hm? Ich muß pinkeln.«
Barlowe winkte Edna Vanoff zu, einer kleinen korpulenten Frau, die dem inneren Rat angehörte, und Edna führte Mutter Grace in den Waschraum am anderen Ende des Kellers. Die alte Frau ging unsicher; sie stützte sich beim Gehen auf Edna und blickte die ganze Zeit verwirrt in die Runde.
Mit lauter Stimme, so laut, daß man sie im ganzen Saal hören konnte, sagte Mutter Grace: »Oh, Mann, ich muß so dringend pinkeln, daß ich Angst habe, ich platze.«
Barlowe seufzte müde und setzte sich auf den zu kleinen, zu harten Stuhl.
Das war für ihn und die anderen Jünger das Schwierigste — Mutter Grace' eigenartiges Verhalten nach einer Vision zu verstehen und zu akzeptieren. Manchmal schien sie in solchen Augenblicken ganz und gar nicht wie eine große spirituelle Führungspersönlichkeit, eher wie eine wirrköpfige, verrückte alte Frau. In allerhöchstens zehn Minuten würde sie wieder ganz die alte sein, und dann würde sie die überzeugte, klar denkende Frau mit dem scharfen Verstand sein, die ihn von einem Leben der Sünde bekehrt hatte. Dann würde niemand Zweifel an ihrer Einsicht, ihrer Macht und ihrer Heiligkeit haben; niemand würde ihre Mission in Zweifel ziehen. Aber während dieser paar beunruhigenden Minuten - obwohl er sie schon oft in diesem Zustand gesehen hatte und wußte, daß er nicht andauerte — fühlte Barlowe sich nichtsdestoweniger unruhig und verunsichert.
Er hatte Zweifel an ihr.
Und haßte sich ob dieser Zweifel.
Er vermutete, daß Gott Mutter Grace diese würdelose Desorientierung auferlegte, um damit den Glauben ihrer Gefolgsleute auf die Probe zu stellen. Auf diese Weise stellte Gott sicher, daß nur die ergebensten Jünger von Mutter Grace bei ihr blieben und daß in den schweren Tagen, die vor ihnen lagen, ihre Kirche stark war. Und doch war Barlowe jedesmal, wenn sie so war, erschüttert.
Er musterte die Mitglieder des inneren Rates, die immer noch auf dem Boden saßen. Sie wirkten alle verstört, und alle beteten. Wahrscheinlich beteten sie um Kraft, um nicht an Mutter Grace zu zweifeln, so wie er an ihr zweifelte. Er schloß die Augen und begann ebenfalls zu beten.
Sie würden all die Stärke, den Glauben und das Vertrauen brauchen, das sie in sich selbst finden konnten, denn es würde nicht leicht sein, den Jungen zu töten. Er war kein gewöhnliches Kind. Das hatte Mutter Grace ihnen unerschütterlich klargemacht. Er würde über schreckliche Kräfte verfügen und würde vielleicht sogar imstande sein, sie in dem Augenblick zu vernichten, wo sie es wagten, die Hand gegen ihn zu erheben. Aber um der ganzen Menschheit willen mußten sie versuchen, ihn zu töten.
Barlowe hoffte, daß Mutter Grace es ihm erlauben würde, den tödlichen Schlag zu führen. Selbst wenn das seinen eigenen Tod bedeutete, wollte doch er derjenige sein, der dem Jungen die tödliche Wunde schlug. Denn wer auch immer den Jungen tötete — oder bei dem Versuch, das zu tun, starb -, war sicher, einen Platz im Himmel zu bekommen, dicht beim Throne Gottes. Barlowe war überzeugt, daß dies die Wahrheit war. Wenn er seine ungeheure körperliche Kraft und seine aufgestaute Wut einsetzte, um dieses böse Kind zu zerschmettern, dann würde er damit für die all die vielen Male Sühne tun, wo er Unschuldigen ein Leid zugefügt hatte, in der Zeit, bevor Mutter Grace sein Leben verändert hatte.
Auf dem harten Eichenstuhl sitzend, die Augen geschlossen, ballten sich seine mächtigen Hände langsam zu Fäusten. Sein Atem ging schneller. Seine mächtigen Muskeln spannten sich, und ein Zittern durchlief ihn. Es drängte ihn, Gottes Werk zu tun.
11
Keine zwanzig Minuten später kam Henry Rankin mit dem Bericht der Zulassungsstelle in Charlie Harrisons Büro.
Rankin war klein, einen Meter achtundfünfzig, schlank, mit der Behendigkeit und der Haltung eines Athleten. Christine fragte sich, ob er vielleicht einmal Jockey gewesen war. Er trug schwarze Mokassins, einen hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd, eine blaue Strickkrawatte und ein blaues Tuch, das sorgfältig gefaltet in der Brusttasche seines Jakketts steckte. Er sah ganz und gar nicht so aus, wie Christine sich einen Privatdetektiv vorstellte.
Nachdem Rankin Christine vorgestellt worden war, reichte er Charlie ein
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