Todesdämmerung
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Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. Der Schweiß von der Stirn rann ihr über das Gesicht. Auf ihrer Oberlippe waren winzige Schweißtropfen erschienen. Ihre weißen Hände flatterten wie zwei im Lichtschein gefangene Motten. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, aber ihre Augen blieben geschlossen. Sie hatte aufgehört zu sabbern, aber der Speichel glänzte immer noch auf ihrem Kinn.
»Was werden wir sehen, wenn wir sein Herz herausschneiden?« fragte Barlowe.
»Würmer«, sagte sie angwidert.
»Im Herzen des Jungen?«
»Ja. Und Käfer, die darin herumkrabbeln.«
Einige ihrer Jünger fingen an miteinander zu murmeln. Jetzt machte das nichts mehr aus. Nichts konnte Mutter Grace' Trance jetzt stören; sie war völlig in sie versunken, ganz im Banne ihrer Visionen.
Barlowe lehnte sich in seinem Stuhl nach vorn, die Hände um die Schenkel gekrampft. »Was müssen wir mit dem Herz tun, sobald wir es ihm aus dem Leib geschnitten haben?«
Sie kaute auf ihrer Unterlippe, so heftig, daß er Angst hatte, sie würde zu bluten anfangen. Jetzt hob sie ihre spastischen Hände wieder und griff ins Leere, als könnte sie dem Äther die Antwort abringen.
»Werft das Herz in...«
»In was?« fragte Barlowe.
»In eine Schüssel mit heiligem Wasser.«
»Aus einer Kirche?«
»Ja. Das Wasser wird kalt bleiben... aber das Herz... wird kochen, zu schwarzem Dampf werden... und sich auflösen.«
»Und dann können wir sicher sein, daß der Junge tot ist?«
»Ja. Tot. Für alle Zeit tot. Dann kann er nicht mehr in einer anderen Inkarnation zurückkommen.«
»Dann gibt es Hoffnung?« fragte Barlowe, der kaum zu glauben wagte, daß es so war.
»Ja«, sagte sie mit belegter Stimme. »Hoffnung.«
»Lobet den Herrn«, sagte Barlowe.
»Lobet den Herrn«, sagten die Jünger.
Mutter Grace schlug die Augen auf. Sie gähnte, seufzte, blinzelte und blickte verwirrt in die Runde. »Wo ist das? Was ist los? Mir ist kalt. Habe ich die Sechs-Uhr-Nachrichten verpaßt? Ich darf die Sechs-Uhr-Nachrichten nicht verpassen. Ich muß wissen, was Luzifers Leute wieder angerichtet haben.«
»Es ist ein paar Minuten vor Mittag«, meinte Barlowe. »Die Sechs-Uhr-Nachrichten sind noch lange nicht.«
Sie starrte ihn mit dem vertrauten, glasigen, wirren Blick an, der immer das Zeichen dafür war, daß sie aus einer tiefen Trance zurückkehrte. »Wer sind Sie? Kenne ich Sie? Das glaube ich nicht.«
»Ich bin Kyle, Mutter Grace.«
»Kyle?« sagte sie, als hätte sie nie von ihm gehört. Ein arg wöhnisches Flackern trat in ihre Augen.
»Nur ruhig«, sagte er. »Entspann dich, und denk darüber nach. Du hast eine Vision gehabt. Du wirst dich gleich daran erinnern. Sie wird sich wieder einstellen.«
Er streckte seine zwei riesigen schwieligen Hände aus. Manchmal, wenn sie aus einer Trance kam, war sie so verängstigt und verloren, daß sie freundlichen Kontakt brauchte. Wenn sie seine Hände packte, nutzte sie für gewöhnlich sein Reservoir an physischer Kraft und kam bald wieder zu sich, als wäre er eine Batterie, an die sie sich anschloß.
Aber heute zog sie sich vor ihm zurück. Sie runzelte die Stirn und wischte sich das feuchte Kinn. Sie blickte in die Runde, sah die Kerzen, die Jünger, war sichtlich verblüfft. »Herrgott, ich habe solchen Durst«, sagte sie.
Einer der Jünger beeilte sich, ihr zu trinken zu holen.
Sie sah Kyle an. »Was willst du von mir? Warum hast du mich hierhergebracht?«
»Du wirst alles gleich begreifen«, sagte er geduldig und lächelte aufmunternd.
»Mir gefällt es hier nicht«, sagte sie, und ihre Stimme war dünn und weinerlich.
»Das ist deine Kirche.«
»Kirche?«
»Der Keller deiner Kirche.«
»Es ist finster«, jammerte sie.
»Hier bist du sicher.«
Sie schmollte, als wäre sie ein Kind, runzelte dann die Stirn und sagte: »Ich mag nicht, wenn es dunkel ist. Ich habe Angst vor der Dunkelheit.« Sie preßte sich die Arme an den Leib. »Warum hast du mich hier ins Dunkle gebracht?«
Einer der Jünger stand auf und schaltete die Beleuchtung ein.
Die anderen bliesen die Kerzen aus.
»Kirche?« sagte Mutter Grace erneut und musterte die vertäfelten Kellerwände und die freiliegenden Deckenbalken. Sie gab sich große Mühe, das alles zu begreifen, war aber immer noch desorientiert.
Barlowe konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Manchmal brauchte sie bis zu zehn Minuten, um die Verwirrung abzuschütteln, die sich stets nach einer Reise in die Geisterwelt einstellte.
Sie stand
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