Todesdämmerung
Weihrauchs.
Grace saß alleine auf der linken Seite der Kirche im zweiten Betstuhl von vorne. Falls sie Barlowe hatte eintreten hören, so ließ sie sich durch nichts anmerken, daß seine Anwe senheit ihr bewußt war. Sie starrte gerade vor sich hin, auf das Kreuz.
Schließlich ging Barlowe den Mittelgang hinunter und setzte sich neben sie. Sie betete. Er wartete, bis sie fertig war. Dann sagte er: »Der zweite Versuch ist ebenfalls gescheitert.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Was nun?«
»Wir folgen ihnen.«
»Wohin?«
»Überallhin.« Sie sprach zuerst leise, in einem Wispern,
das er kaum hören konnte, aber mit der Zeit erhob sich ihre Stimme, gewann an Kraft und Überzeugung, bis sie gespenstisch von den schattenverhüllten Mauern der Kirche widerhallte. »Wir geben ihnen keinen Frieden, keine Ruhe, keine Zuflucht und keine Gnade. Wir müssen unbarmherzig sein, rücksichtslos, unerschütterlich. Wir werden wie Bluthunde sein. Wie Bluthunde des Himmels. Wir werden uns an ihre Fersen heften und bellen, ihnen an die Kehle springen und sie zu Boden reißen, über kurz oder lang, hier oder dort, wann Gott es will. Wir werden siegen; dessen bin ich sicher.«
Sie hatte beim Reden das Kreuz eindringlich angestarrt, aber jetzt wandte sie ihre farblosen grauen Augen ihm zu, und er spürte, wie ihr Blick bis in sein Innerstes drang, bis zu seiner Seele.
»Was willst du, daß ich tue?« fragte er.
»Jetzt geh nach Hause. Schlafe. Bereite dich auf den Morgen vor.«
»Werden wir sie heute nacht nicht noch einmal angreifen?«
»Zuerst müssen wir sie finden.«
»Wie?«
»Gott wird uns den Weg weisen. Jetzt geh. Schlafe.«
Er stand auf, trat in den Mittelgang. »Wirst du auch schla fen? Du brauchst Ruhe«, sagte er besorgt.
Ihre Stimme war wieder zu einem heiseren Wispern verblaßt, man konnte die Erschöpfung heraushören. »Ich kann nicht schlafen, lieber Junge. Eine Stunde der Nacht. Dann wache ich auf, und mein Geist ist von Visionen erfüllt, von Botschaften der Engel, von Kontakten mit der Geisterwelt, voll Sorgen und Ängsten und Hoffnungen, mit Blicken auf das verheißene Land, Bildern des Ruhmes, der schrecklichen Last der Verantwortung, die Gott auf mich gehäuft hat.« Sie wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Wie ich mir doch wünsche, ich könnte schlafen, wie ich mich nach dem Schlaf sehne und danach, daß all diese Forderungen und Ängste nachlassen mögen! Aber Er hat mich umgeformt, auf daß ich während dieser Krise ohne Schlaf funktionieren kann. Ich werde so lange nicht gut schlafen, bis der Herr es wünscht. Aus Gründen, die mir unbegreiflich sind, braucht Er mich wach, besteht darauf, gibt mir die Kraft, ohne Schlaf auszuharren, hält mich wachsam, beinahe zu wachsam.« Ihre Stimme zitterte, und Barlowe glaubte, daß dieses Zittern von Ehrfurcht und Angst ausgelöst wurde. »Ich sage dir, lieber Kyle, es ist gleichzeitig glorreich und schrecklich, wunderbar und beängstigend, erfrischend und erschöpfend, das Instrument des Willens Gottes zu sein.«
Sie öffnete ihre Tasche, zog ein Taschentuch heraus und schneuzte sich. Plötzlich bemerkte sie, daß das Tuch braun und gelb befleckt war, widerwärtig verklebt.
»Schau dir das an«, sagte sie und deutete auf das Taschentuch. »Es ist schrecklich. Ich war einmal so reinlich. So sauber. Mein Mann, möge der Herr seine Seele segnen, sagte immer, mein Haus sei sauberer als der Operationsraum in einem Krankenhaus. Und ich habe immer sehr darauf geachtet, gepflegt zu sein; ich habe mich gut gekleidet. Und ich hätte nie ein widerwärtiges Taschentuch wie dieses bei mir getragen, niemals, nicht bevor mir die Gabe verliehen wurde und so viele gewöhnliche Gedanken verdrängt hat.« Die Tränen glitzerten in ihren grauen Augen. »Manchmal habe ich Angst. Ich bin Gott für die Gabe dankbar, ja, dankbar für das, was ich gewonnen habe, aber verängstigt we gen dessen, was ich verloren habe.«
Er wollte verstehen, wie es für sie sein mußte, das Instru ment des Willens Gottes zu sein, aber er konnte ihren Geisteszustand oder die mächtigen Kräfte, die in ihr am Werk waren, nicht begreifen. Er wußte nicht, was er zu ihr sagen sollte, und war bedrückt, daß er unfähig war, ihr auch nur mit Zuspruch zu helfen.
»Geh nach Hause und schlaf«, sagte sie. »Morgen werden wir vielleicht den Jungen töten.«
28
Während sie über die vom Regen gepeitschten Straßen ra sten, bestand Charlie darauf, sich Christines Wunde anzu sehen, obwohl sie
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