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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernward Schneider
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Jeder in der spiritistischen Kette muss darauf gefasst sein.«
    Gladys wollte schon sagen, sie kenne niemanden im Jenseits, aber dann musste sie an den armen Phil denken, dessen Leiche womöglich noch immer in der Themse schwamm, daher blieb sie lieber still.
    »Sie haben recht, Mr. Raubold«, sagte sie nach einer Weile. »Ich hätte die Einladung nicht annehmen sollen. Aber jetzt ist es zu spät. Ich habe zugesagt.«
    »Ach, so schlimm wird es schon nicht werden«, entgegnete Raubold. »Sie dürfen nur nicht ernst nehmen, was Sie dort erleben. Morgen werden Sie über den ganzen Spuk lachen.«
    Beim Abendessen sah sie einen hoch gewachsenen Mann bei den Astors am Tisch sitzen, den sie bisher noch nicht gesehen hatte und dessen Alter sie schwer einschätzen konnte, er mochte in den Vierzigern, konnte aber auch über 50 sein. Sein Gesicht war knochig mit einem elfenbeinfarbenen und erstaunlich glatten Teint. Von seiner ganzen Erscheinung ging etwas Mysteriöses, fast Unheimliches aus, und sie überlegte, ob dieser Mann wohl der Okkultist war, der die Séance leiten würde.
    Beim Verlassen des Speisesaals wurde sie von Madeleine Astor an die abendliche Veranstaltung erinnert.
    »Dr. Faussett ist ein in Amerika angesehener Okkultist«, fügte sie hinzu. »Er wird uns eine fantastische Vorstellung liefern.«
    »War der Herr, der eben mit Ihnen zu Abend aß, dieser Okkultist?«
    Madeleine schüttelte den Kopf. »Nein, das war Mr. Barrett. Er wird auch an der Séance teilnehmen.«
    Als es Zeit für die Abendgesellschaft war, ging Gladys in ihre Kabine, um sich umzuziehen. Vor dem Spiegel betrachtete sie mit Wohlgefallen ihre gertenschlanke Gestalt. Unwillkürlich musste sie lächeln. Ihr Körper hatte sie noch nie im Stich gelassen; was das anging, war sie ein Glückskind. Sie gehörte zu den wirklich schönen Menschen, das konnte sie selbst als uneitler Charakter nicht abstreiten. Mit der Hand strich sie über die kleinen festen Brüste, die samtene Haut, die sich über ihre Rippen spannte, und seufzte. Wie sehr sehnte sie sich nach körperlicher Berührung, nach einem liebevollen Mann! Nicht nach jemandem wie Garfield, sondern nach einem vertrauten Gefährten, der sie nicht nur begehrte, sondern aufrichtig liebte und den auch sie aufrichtig lieben und begehren könnte. Ihr Leben war an erotischen Erfahrungen nicht arm gewesen und das körperliche Vergnügen ein Teil ihres Alltags, sie erlebte es gern und häufig und kam ohne Probleme zum Orgasmus. Doch ein Mann, den sie von Herzen hätte lieben können, war ihr noch nicht begegnet. Oder doch, einmal schon, erinnerte sie sich, ganz früh in ihrer Jugend, das war lange her. Ach, würde sie doch endlich den Richtigen finden! Sie würde alles für ihn tun, ihm überallhin folgen. »Sogar bis ins Eis …«, sagte Gladys leise wie zu sich selbst und schüttelte sich. Sie blickte hoch und betrachtete sich, wie sie keck die Unterlippe zwischen die Zähne zog. An Bord musste es doch einen geben, mit dem sie gern ihr Bett teilen würde, einen attraktiven Mann, der sich nicht in weiblicher Begleitung befand, und sie beschloss, von nun an gezielt nach einem geeigneten Kandidaten Ausschau zu halten.
    Ihr Blick ruhte auf ihren honigfarbenen Schultern, ihren schlanken Armen, und kurz entschlossen wählte sie ein eng geschnittenes Kleid aus schwarzem Samt, das Schultern und Arme freiließ und ihre langen Beine nur bis knapp über die Knie bedeckte. Sie war schon an der Tür, da fiel ihr ein, dass sie möglicherweise den von Fenstern nicht geschützten Teil des Decks betreten musste, und so zog sie ein schwarzes Bolerojäckchen über die bloßen Schultern, bevor sie die Kabine verließ.
    Der Salon der Astors lag in der vorderen Steuerbord­ecke der Oberdeckkabinen. Als Gladys an die Kabinentür klopfte und eingelassen wurde, waren die meisten anderen Gäste schon da. Die Astors begrüßten sie hoch erfreut, als wäre sie ein ganz besonderer Ehrengast. Zu ihrer Überraschung war auch Garfield anwesend. Er musterte sie eindringlich und mit einem frechen Grinsen, und sie merkte noch deutlicher als bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, dass sie ihn nicht mochte.
    »Mrs. Appleton und ich kennen uns bereits«, sagte Garfield zu Astor. »Hallo, meine Liebe. Sie sehen wundervoll aus.«
    »Guten Abend, Mr. Garfield.«
    Die Salon-Suite bestand aus mehreren Räumen und war mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet. Die Decken waren mit edelstem Mahagoniholz getäfelt und die Wände mit rotgoldenem

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