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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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viel über den Partner und dessen Geschäfte zu wissen. Das war für Frauen in ihrer Rolle eine Art Überlebensstrategie.
    Ungern dachte sie an jenen letzten schrecklichen Abend in London zurück, aber jetzt erinnerte sie sich wieder, dass Phils Mörder ihn als Verräter bezeichnet hatte. Wodurch war Phil Ryland zum Verräter geworden? Hatte Frank Jago ihn deshalb so genannt, weil er mit Astor Geschäfte machen wollte? Komischer Gedanke, sagte sie sich; aber der Gedanke war von einer subtilen Überzeugungskraft, und sie hatte das Gefühl, dass ihre Intuition sie auf die richtige Fährte geführt hatte. Sie trank ihr Glas aus.
    »Ich werde Sie jetzt verlassen, Mr. Raubold«, sagte sie. »Bleiben Sie bitte sitzen! Ich finde meine Kabine auch allein.«
    Als sie das Promenadendeck betrat, war es dort leer geworden. Die meisten Leute hatten sich in ihre Kabinen zurückgezogen. Sie stieg die Stufen zu einem der Freidecks hinauf und trat an die aus einem Geländer bestehende Reling. Wie gebannt betrachtete sie die weite, unendliche Schwärze, über der merkwürdig kalt das Mondlicht glitzerte, und erneut überfiel sie der Eindruck von Bodenlosigkeit, der sie schon vor einer Stunde so verunsichert hatte, und sie erschrak regelrecht, als ihr klar wurde, dass unter ihr ein gewaltiger, grässlicher Schlund von Dunkelheit und Tiefe gähnte, vor dem die Planken der Titanic sie nicht schützen konnten. Das Meer war eine Bestie, die gelegentlich nach Opfern verlangte, und sie fragte sich, ob es Mut oder bloß Vermessenheit war, dass sich der Mensch auf Nussschalen wie der Titanic in den Rachen dieses Ungeheuers warf und ihm die Möglichkeit gab, sie zu verschlingen.
    Plötzlich fühlte sie sich beobachtet, und als sich suchend umschaute, erblickte sie an der Reling einen dunkel gekleideten Mann, der ihr den Rücken zudrehte. Bei seinem Anblick hatte sie sofort das Gefühl, er habe sich nur deshalb zur Seite gedreht, damit er ihr sein Gesicht nicht zeigen musste, als sie in seine Richtung blickte. Er trug eine Schirmmütze und schien ganz in den Anblick des Meeres vertieft. Sie ging weiter und als sie an ihm vorübergegangen war, verstärkte sich ihr Eindruck, dass der Unbekannte, dessen Gesicht im Schatten lag, sie wieder mit seinen Blicken verfolgte. Er hatte sich außerdem von der Reling gelöst und ging ihr nach, wobei er in angemessenem Abstand hinter ihr blieb. Sie verließ das Deck und gelangte in das Treppenhaus unter der gigantischen Glaskuppel, von wo sie zu der zwei Etagen tiefer liegenden Ebene hinabstieg. Zu beiden Seiten der schwach beleuchteten, teppichbelegten Korridore, an denen die Kabinen lagen, erstreckten sich die blank polierten Mahagonitüren mit ihren Messingnummern.
    Gladys schritt zügig durch den Gang, der zu ihrer Kabine führte, und als sie die nächste Ecke erreichte, an der im rechten Winkel der Gang abbog, an dem ihre Kabine lag, nahm sie all ihren Mut zusammen und blickte sich um.
    O Schreck! Da war er – oder sein Schatten, denn mehr sah sie nicht von ihm; kein Gesicht, sondern eine dunkle, vermummt wirkende Gestalt, die im selben Moment, als Gladys ihrer ansichtig wurde, zurückwich und hinter der nächsten Ecke verschwand.
    Sie lief die letzten Meter zu ihrer Kabine und atmete erleichtert auf, als sie drin war und die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Dort ließ sie sich auf das Bett fallen. Wer hatte sie verfolgt? War der Schatten ein Feind, der ihr aus London auf die Titanic gefolgt war? Oder war er von der Sorte Männer, die attraktiven Frauen nachschlichen, um sie zu beobachten oder auch Schlimmeres beabsichtigten? Aber hatte überhaupt jemand sie verfolgt? Oder hatte ihr überreiztes Nervenkostüm ihr vielleicht einen Streich gespielt?
    Ein Gefühl der Verzagtheit bemächtigte sich ihrer. Nicht nur der Schatten des Fremden, sondern auch das Gespräch mit Raubold über Astor lastete auf ihrem Gemüt. Die verdammten Geschäfte, dachte sie, das verdammte Geld; immer war das Geld Auslöser für all die furchtbaren Geschäfte, die die Leute machten, um es zu vermehren, wodurch sie sich immer tiefer in das Böse verstrickten, bis schließlich alles zugrunde ging.
    Sie schaute sich um. Irgendetwas stimmte nicht. Was hatte sich in der Kabine verändert? Sie erhob sich und ging kreuz und quer durch die Kabine, um zu prüfen, was anders geworden war, doch es gelang ihr nicht, festzustellen, woher ihr Eindruck rührte; bei genauerer Betrachtung schien alles an seinem Platz zu sein.
    Sie
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