Todeseis
öffnete den Kabinenschrank und nahm ihren Reisekoffer heraus. Der Koffer war fast leer, nur ein Nachthemd, das sie nicht ausgepackt hatte, lag noch darin. Sie schlief am liebsten nackt, sodass sie es selten benutzte; aber so unordentlich, wie es jetzt dort lag, hatte sie das Nachthemd nicht in den Koffer gepackt. Als sie den Koffer von Phil aus dem Schrank zog und öffnete, fiel ihr auf, dass eines der beiden Schlösser nicht zugedrückt war. Sie selbst hatte den Koffer gepackt, und sie registrierte sofort, dass auch dieser Koffer durchsucht worden war. Sie hätte nicht sagen können, ob etwas fehlte, da sie nicht wusste, was Phil außerdem noch hineingelegt hatte; aber ihr fiel auf, dass sich keinerlei persönliche Schriftstücke im Koffer befanden; falls es solche gegeben hatte, waren sie verschwunden.
Der unbestimmte Eindruck von Fremdheit hatte also nicht getrogen. Jemand hatte sich unbefugt an den Koffern und womöglich auch an anderen Dingen in der Kabine zu schaffen gemacht. Aber wer? Der Zimmerservice konnte es kaum gewesen sein, denn der mochte zwar etwas in der Kabine verändern, aber er ging gewiss nicht an die Koffer. Gab es auf diesem Schiff professionelle Einbrecher, Leute, die sich mit einem Nachschlüssel Zutritt zu den Kabinen verschaffen konnten? Hätte so jemand unbekümmert ihre Schränke, Schubladen und Koffer nach Wertsachen durchsucht? Oder war der Schatten, der ihr eben vom Deck in den Kabinengang gefolgt war, dieser Eindringling gewesen? Und wonach hatte er gesucht? Nach persönlichen Papieren – oder nach Geld, Wertsachen und Schmuck? Was für ein Glück, dachte sie, dass sie ihre Wertsachen mit Ausnahme des Schmucks, den sie am Leibe trug, im Schiffstresor deponiert hatte.
Unruhig ging sie in der Kabine umher. Etwas in ihr weigerte sich daran zu glauben, dass sie das zufällige Opfer eines Einbrechers geworden war. Irgendjemand auf dem Schiff war ihr böse gesonnen; und die Angst, die sie seit Betreten der Gangway in regelmäßigen Abständen beschlich, schien nicht unbegründet zu sein. Es gab jemanden, der wusste, dass die weibliche Begleitung, für die Phil Ryland die Reise mitgebucht hatte, an Bord der Titanic gegangen war, und dieser jemand mochte ahnen oder herausgefunden haben, dass sie selbst diese Begleitung war. Nur gut, dass sie ihren Namen geändert hatte, sagte sie sich. Hätte sie es nicht getan, wäre der unbekannte Verfolger ihr längst auf die Schliche gekommen.
Was konnte sie tun? Fliehen war auf einem Schiff nicht möglich, was allerdings auch für ihren Verfolger galt. Niemand konnte auf dem Schiff etwas Unrechtes tun und danach die Flucht ergreifen. Insofern bot das Schiff auch ihr einen gewissen Schutz. Sie trat zu der Kabinentür, um sie fest zu verschließen. Den Schlüssel ließ sie im Schloss stecken, damit niemand von außen die Tür öffnen konnte.
Schließlich ging sie zu Bett. Anders als in der vergangenen Nacht lag sie lange wach, und als sie schließlich eindämmerte, blieb ihr Schlaf unruhig und voller chaotischer Träume.
4. Kapitel
Freitag, 12. April 1912
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück begegnete ihr Nevil Boyes, der freundliche Kabinensteward vom Tag der Abreise auf dem Gang.
»Nevil, gut, dass ich Sie treffe«, sagte Gladys. »Ich muss Sie davon unterrichten, dass in meine Kabine eingebrochen wurde.«
Nevil zog die Augenbrauen hoch. »Was, tatsächlich? Ist das Schloss der Tür beschädigt worden? Lassen Sie mich sehen.«
»Es ist nichts zu erkennen. Die Tür selbst ist unversehrt. Aber die Koffer wurden durchwühlt. Kann es jemand vom Zimmerservice gewesen sein? Aber für den sind Sie doch verantwortlich, nicht wahr?«
Nevil hob wie zur Abwehr die Hände.
»Ich habe Ihre Kabine nicht betreten!«
»Dann hatte der Eindringling entweder einen Nachschlüssel, oder ich habe vergessen abzuschließen, und er hat die günstige Gelegenheit genutzt.«
»Wurde denn etwas gestohlen, Mrs. Appleton?« Nevil machte bei dieser Frage ein so zerknirschtes Gesicht, als wäre ihm das Missgeschick selbst passiert.
»Ich konnte bisher nicht feststellen, dass etwas fehlte.«
»Gott sei Dank«, sagte Nevil in einem Ton, als fiele ihm ein Stein vom Herzen.
»So schlimm ist es auch nicht«, sagte Gladys. »Sie können ja nichts dafür, Nevil. Man bekommt nur so ein komisches Gefühl, wenn man feststellt, dass ein Fremder sich an den eigenen Sachen zu schaffen gemacht hat.«
»Das verstehe ich sehr gut, Madam! So etwas ist natürlich nicht zu
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