Todesengel (Gesamtausgabe)
kommt die Gattin dran und zum Schluss die Tochter, mit der Mirjam Berndt aber allein sprechen soll.
Alle Protokolle werden nach den Verhören anhand der Tonbandaufzeichnungen gefertigt und den Familienangehörigen vorgelegt, bevor wir wieder verschwinden! Am Wichtigsten ist es, soviel wie möglich aus den Leuten herauszubekommen, ohne dass sie merken, dass wir sie verdächtigen! Was weiß die Familie eigentlich über den Zweck unseres Besuchs, Herr Menger?“ Der Hesse hatte nicht damit gerechnet, befragt zu werden und wirkte ein wenig irritiert, fing sich aber schnell wieder und gab dann bereitwillig Auskunft: „Mein Chef hat gestern Abend mit allen Familienangehörigen telefoniert und sie gebeten, sich heute für uns zur Verfügung zu halten. Er erzählte ihnen, dass sie als Zeugen im Mordfall von Hoff vernommen werden sollen und sie hatten offensichtlich nichts dagegen!“
„Dann wollen wir mal!“ meinte Becker und schritt wenig später Seite an Seite mit den anderen Kriminalbeamten auf das Haus mit der weiß getünchten Fassade zu…
21.
Nach ihrem nächtlichen Alptraum war Mirjam Berndt ruhelos durch die Wohnung gestreift und hatte hin und her überlegt, wie sie mit der schockierenden Erkenntnis, einen Kinderschänder zum Patenonkel zu haben, umgehen sollte.
In ihren Fantasien wechselte sie sprunghaft zwischen der Unausweichlichkeit ihres Freitodes, den es möglichst öffentlichkeitswirksam zu inszenieren galt und der Zerstückelung ihres Verderbers, der hinterher bestimmt keinem kleinen Mädchen etwas antun konnte. Am Ende war sie drauf und dran gewesen, auf der Fahrt zum Flughafen bei ihren Eltern vorbeizuschauen und ihnen über den befreundeten Staatsanwalt reinen Wein einzuschenken, doch dann hatte sie diesen Plan wieder fallengelassen, weil weder Vater noch Mutter ihr die Geschichte von der Missetat Sauerbreis glauben würden.
Dafür hatte sie sich fest vorgenommen, die arme Clio so weit wie möglich zu schonen, sie zumindest nicht willentlich ans Messer zu liefern und deshalb wunderte sie sich, dass sie jetzt, vor dem Beginn der als Zeugenanhörung getarnter Vernehmung, so gut wie nichts für die junge Frau empfand. Sie ließ ihren Blick skeptisch über Clios welliges Haar schweifen, über das schmale, nach ihrem Geschmack zu aufdringlich geschminkte Gesicht, das nicht einmal bis zu den Knien reichende marineblaue Stretchkleid und zuletzt über die schlanken, nylonbestrumpften Beine, die in hochhackigen Pumps steckten. Viel zu schick für eine Abiturientin, fuhr es ihr durch den Kopf und sie erwischte sich dabei, in für Männer typische Denkweisen zu verfallen. Missbrauchte Frauen waren, so hatte sie es von ihren Kollegen oft genug gehört, letztlich selbst Schuld an ihrem Unglück, weil sie, bewusst oder unbewusst, missverständliche Signale aussandten, die bei Kerlen wie von Hoff zu einem vorübergehenden Kontrollverlust führten, zu einer Aggressivität, die sich gegen ihre Opfer ebenso richtete wie gegen sich selbst.
Ob Sauerbrei auch zu dieser Kategorie zählte?
Sie konnte sich nur nicht vorstellen, mit sechs Jahren schon dem Profil der verführerischen Lolita entsprochen zu haben, aber wenn sie an die merkwürdige Angewohnheit ihrer Mutter dachte, sie zu allen denkbaren Gelegenheiten herauszuputzen wie eine kleine Prinzessin, konnte sie nicht einmal das ausschließen. Bestimmt hatte Mama ihr für den Zoobesuch das niedlichste Kleidchen angezogen und Sauerbrei an jenem verhängnisvollen Tag so großen Gefallen an ihr gefunden, dass er sie um jeden Preis lieb haben wollte. Und wenn sie sich nicht so zickig angestellt hätte, wäre alles halb so schlimm gewesen, hätte sie die Intimitäten des Patenonkels vielleicht sogar genossen.
Immerhin gab es Psychologen, die ernsthaft behaupteten, dass Kindesmissbrauch häufig mit einem hohen Maß an Zärtlichkeit gepaart und manches Mädchen sogar zu Tode betrübt sei, wenn der väterliche Freund nicht mehr zu ihm kommen dürfe...
„Woran denken Sie?“, Wollte Clio wissen und Mirjam schreckte aus ihren Gedanken hoch, entschuldigte sich mit hochrotem Kopf für ihre Zerstreutheit und wies die 19-Jährige dann auf das Tonband hin, mit dem die Anhörung aufgenommen werden sollte.
„Dürfen Sie das?“, wollte Clio wissen und die Oberkommissarin fauchte die junge Frau an: „Natürlich darf ich das! Ich fände es aber schöner, wenn Sie mich nicht zwingen würden, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen! Oder haben Sie was zu
Weitere Kostenlose Bücher