Todesengel (Gesamtausgabe)
Mirjam Berndt zur Überraschung ihrer Kollegen und Becker nahm den Ball sofort auf, weil er in der Einbeziehung der Oberkommissarin eine Chance sah, sie wieder in das Team zu integrieren. Im Brustton der Überzeugung meinte er, dass es nicht schaden könne, wenn eine Frau das vergewaltigte Mädchen verhöre und diese Argumentation überzeugte schließlich die anfangs noch skeptischen Ermittler, nicht aber Sauerbrei und es bedurfte erst der gemeinsamen Überredungskünste von Frankenstein und Becker, ehe der Oberstaatsanwalt sich dem Votum des Teams beugte. Seine widerwillig gegebene Zustimmung änderte aber nichts an seinen Vorbehalten, weil er wusste, mit welchen Gefahren für ihn die Begegnung von Clio und Mirjam verbunden war. Bisher hatte die Oberkommissarin Gott sei Dank noch nicht realisiert, was sich in seiner Villa zwischen ihr und ihm abgespielt hatte, aber das konnte sich rasch ändern, wenn sie mit einem vergleichbaren Opfer sexueller Gewalt sprach...
19.
Auf dem Nachhauseweg vom Handballtraining im Norden Berlins ließen Mirjam die Bilder von der vergewaltigten Clio nicht mehr los, die im Verlauf der mittäglichen Lagebesprechung in ihrem Kopf entstanden waren.
Sie sah das Mädchen zum Greifen nah vor sich, unsterblich in den hageren, hoch aufgeschossenen Kaplan verliebt, aber nicht so, wie es die Männer sich in ihren schmutzigen Fantasien vorstellten, sondern auf geradezu zerbrechliche Weise, wie es für ihre Geschlechtsgenossinnen im Vorfeld erblühender Weiblichkeit typisch zu sein schien. Dann hörte sie die gellenden Schreie der Heranwachsenden, sah die Verzweiflung in ihrem Gesicht, als der Geistliche sie gewaltsam entjungferte und je mehr sie die Bilder des Verbrechens bedrängten, desto klarer wurde ihr, dass sie mit Clio etwas verband, was sie noch nicht recht fassen konnte, aber mit ihrer eigenen Kindheit zu tun hatte. Warum aber hatte sie sich Frankenstein und Becker aufgedrängt, wenn sie sich jetzt, nur wenige Stunden später, in der kleinen Clio wieder erkannte, kam ihr doch, wenn der hessische Generalstaatsanwalt grünes Licht gab, die undankbare Aufgabe zu, das Mädchen zu verhören. Zwar nur als Zeugin, aber jeder in der Sonderkommission ging davon aus, dass Clio etwas mit dem Tod des Geistlichen zu tun hatte und erwartete von der Oberkommissarin, dass sie die inzwischen 19-Jährige in die Mangel nahm und möglichst rasch zu einem Geständnis brachte.
Warum also wollte sie das Mädchen mit ihren Fragen quälen und des Mordes überführen, wenn sie sich genauso gut selbst verhören konnte, zum Beispiel zu den schrecklichen Minuten in der Villa, die inzwischen fast jede Nacht in ihren Alpträumen wiederkehrten, ohne dass sie den Schuft, der über sie hergefallen war, identifizieren konnte. Aber wollte sie überhaupt wissen, wer damals mit ihr in dem Schlafzimmer gewesen war? Vielleicht hatte sich ihr Hirn im Laufe der Jahre etwas zurechtgebogen und präsentierte ihr jetzt, wenn sie ihren Kopf übermäßig strapazierte, einen Täter, den es in Wirklichkeit gar nicht gab? Sei es drum, sie hatte sich in der heutigen Sitzung vorgedrängelt und konnte keinen Rückzieher mehr machen, höchstens hoffen, dass sich der Studienfreund ihres Patenonkels die Einmischung der Berliner Polizei verbat und der Kelch noch einmal an ihr vorüber ging. Aber würde es ihr wirklich helfen, wenn sie Clio nicht vernehmen musste? Würde sie nicht, wenn sie in Beckers Team blieb, irgendwann zwangsläufig auf die Frauen treffen, die es Sittenstrolchen wie diesem adligen Priester heimzahlten? Und dann? Sollte sie sich, wenn es zum Schwur kam, in eine Krankheit flüchten oder besser gleich den Dienst quittieren? Und wem wäre mit diesem Schritt gedient? Bestimmt nicht den Frauen, hinter denen ihre Kollegen her waren wie der Teufel hinter der armen Seele, obwohl sie ihrer Ansicht weit mehr Nachsicht verdienten als die lausigen Triebtäter, die sonst ins Visier der Sonderkommission gerieten.
Mirjam bog mit ihrem Wagen von der Lindenstraße in die Markgrafenstraße ab, in der sie wohnte, musste lange suchen, bis sie einen Platz zum Abstellen des Autos fand und öffnete schließlich kurz nach 21 Uhr ihre Wohnungstür, an der sie schon Kater Carlos, ein Mitbringsel von den Kanarischen Inseln, mit großem Miau erwartete.
Die Oberkommissarin versorgte als Erstes das Haustier, sah dann nach dem Anrufbeantworter und hörte die vier aufgezeichneten Nachrichten ab, von denen die ersten drei belanglos waren, nicht aber die
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