Todesengel (Gesamtausgabe)
Ihrer alten Pfarrei vorbeigeschaut und sind ihm bei dieser Gelegenheit über den Weg gelaufen?“
Mirjam achtete auf jede noch so winzige Reaktion im Gesicht der jungen Frau und ihr Gespür sagte ihr, dass Clio sie jetzt anlügen würde. Für diese Annahme sprachen die um Nuancen veränderte Farbe ihrer Wangen, das für einen ungeübten Beobachter kaum wahrnehmbare Flackern der Augenlider und nicht zuletzt die verräterische Körperhaltung. Dich kriege ich, fuhr es ihr durch den Kopf, doch wollte sich bei diesem Gedanken nicht das erwartete Triumphgefühl einstellen.
„Nein“, versicherte Clio und rutschte dabei auf ihrem Stuhl hin und her, „ich habe ihn nie wiedergesehen. Und es gab es auch keine anderen Kontakte!“
„Aber Sie waren doch in den letzten Jahren bestimmt einmal in Ihrer Heimatstadt! Ich meine, auf Klassenfahrt oder so...“ Die Nervosität der Abiturientin war für Mirjam jetzt förmlich greifbar und als Clio schließlich das Wort ergriff, wusste sie endgültig, dass die junge Frau etwas vor ihr verbarg, ein dunkles Geheimnis, das sie um keinen Preis lüften würde.
Nein, versicherte Clio, sie könne sich nicht erinnern, oder doch, aber nur an eine Wochenendfahrt mit dem Bund der Deutschen katholischen Jugend, aber die sei auch schon drei Jahre her und sonst, nein, mit weiteren Reisen an die Spree könne sie nicht dienen und ihr solle die Hand abfaulen, wenn sie nicht die Wahrheit sage...
Mirjam seufzte so laut, dass es später beim Abhören des Bandes deutlich zu vernehmen war, schaltete das Aufnahmegerät aus und fixierte ihr Gegenüber wie die Schlange das Kaninchen. Wog jedes Wort, das über ihre Lippen kam, sorgsam ab und sprach so leise, dass kein Lauscher an der Tür eine Chance hatte, etwas von dem, was sie Clio zu sagen hatte, mitzubekommen: „Ich hatte vor dieser Vernehmung ebenso viel Angst wie Sie und beging den Fehler, Ihnen die Schuld daran zu geben, obwohl ich wusste, dass ich Ihnen damit Unrecht tue! Tatsächlich bin ich im Alter von sechs Jahren auch an einen Mann geraten, der mein Vertrauen ausnutzte und mich missbrauchte, den besten Freund meines Vaters, der im Elternhaus ein und ausging! Ich weiß also, wie Sie sich fühlen und hätte alles Verständnis der Welt, wenn Sie etwas mit dem Mord am Geistlichen zu tun hätten! Mein Bauch sagt mir ohnehin, dass Sie etwas vor mir verbergen, aber ich werde den, verzeihen Sie bitte, ich werde den Teufel tun, weiter in Sie zu dringen. Wenn Sie etwas mit von Hoffs Tod zu tun haben, müssen Sie ohnehin damit klar kommen, aber wenn Sie irgendwann Ihr Gewissen erleichtern wollen, bitte sehr, ich gebe Ihnen jetzt meine private Visitenkarte! Sie können mich jederzeit anrufen...“
Aus Clios Augen lösten sich einige bittere Tränen und kullerten über ihre Wangen und auch Mirjam war kurz davor, loszuheulen, riss sich aber zusammen, um die Zeugenanhörung zu einem vernünftigen Abschluss bringen zu können und schaltete das Tonband wieder ein. Überlegte bei jeder weiteren Frage, ob ihre Kollegen unliebsame Schlüsse aus den Antworten ziehen könnten und umarmte Clio, als die Vernehmung beendet war, zum Abschied wie eine Busenfreundin.
22.
Auf dem Rückflug werteten die Ermittler die Vernehmungen in Königstein aus und kamen übereinstimmend zum Schluss, dass weder Clio noch ihre Eltern für die Bluttat im Großen Tiergarten in Frage kamen.
Der Vater hatte am fraglichen Tag an einer Besprechung mit dem Vorstand der Wohnungsbaugesellschaft teilgenommen, für die er immer noch tätig war, die Mutter mit ihren Nachbarinnen eine Partie Bridge gespielt und dass Clio beim Aufräumen nach der wüsten Abiturfeier geholfen hatte, bestätigten mindestens 14 Klassenkameraden. Umso erstaunter war der vom anstrengenden Tag sichtlich mitgenommene Frankenstein, als Becker bei seinem von Resignation geprägten Einwurf, das Team müsse bei seinen Ermittlungen wieder von vorn anfangen, heftig den Kopf schüttelte.
„Wieso bist du so optimistisch?“, wollte Frankenstein wissen und auch die Oberkommissarin heuchelte Interesse, obwohl Becker mit seinen Erkenntnissen nie und nimmer so weit sein konnte wie sie.
„Ich habe mir“, führte der Hauptkommissar aus, „eine aus meiner Sicht hieb- und stichfeste Theorie zurechtgelegt! Zunächst halte ich es für erwiesen, dass die drei Verbrechen in Hamburg und Berlin zusammenhängen, es sich um eine klassische Mordserie handelt! Ob mit einem Täter oder mit mehreren, wissen wir noch nicht, aber das
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