Todesengel (Gesamtausgabe)
größte Suchaktion im Land Brandenburg seit Jahren auslöste. Zunächst waren es nur zwei Dutzend Bereitschaftspolizisten, die sich im Umkreis der Jagdhütte umsahen, doch als sich die ersten Beamten vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnten und die Polizeiführung in Eberswalde sich darauf verständigte, das Suchgebiet auszuweiten, kamen über hundert Ordnungshüter aus den benachbarten Landkreisen hinzu, die Wälder, Wiesen und Auen des Barnim durchforsteten.
Dennoch wären die Leichen der Jäger wahrscheinlich erst nach Monaten gefunden worden, wenn Kriminalkommissar Hauptmann nicht, einer Eingebung folgend, befohlen hätte, nicht nur nach den Männern zu suchen, sondern auch nach dem spurlos verschwundenen Geländewagen, mit dem die Waidmänner zur Jagdhütte aufgebrochen waren.
Ende Juni, die vom heißen Frühsommer zermürbten Bereitschaftspolizisten wollten schon alles hinschmeißen und unverrichteter Dinge in ihre Kasernen zurückkehren, meldete sich ein passionierter Wanderer bei einem ländlichen Gendarmerieposten, beschwerte sich über einen unbefugt in der Schorfheide abgestellten Jeep und fand im Wachtmeister, der die Anzeige entgegennahm, einen aufmerksamen Zuhörer, der umgehend den von Hauptmann geleiteten Einsatzstab alarmierte. Danach dauerte es keine Stunde, bis eine Vorhut der Polizei den in einem Sonnenblumenfeld versteckten Geländewagen erreichte und sofort in alle Richtungen ausschwärmte, unterstützt von einem Suchhund, der schließlich die Leichen aufstöberte und verbellte.
Die Vermissten lagen, als die Beamten sie fanden, wie ein schwules Liebespaar da, Bauch an Bauch wie bei gegenseitiger Fellatio. Und weil Stockmann das abgeschnittene Glied von Kohn im Mund hatte und umgekehrt, war es keinesfalls abwegig zu vermuten, dass sich die Jäger im Zustand höchster Lust gegenseitig die Genitalien abgebissen hatten. Außerdem waren die Jäger gefoltert worden und hatten sich, was den Anblick der Leichen endgültig unerträglich werden ließ, einige hungrige Wildschweine an den sterblichen Überresten gütlich gemacht, vielleicht als späte Rache dafür, dass die Waidmänner ihnen und ihren Artgenossen zu Lebzeiten nachgestellt hatten. Ein anderer Umstand elektrisierte Hauptmann aber, als er sich wenig später die Toten ansah, vielmehr, hatten die Mörder doch eine Spraydose bei sich gehabt und die Worte Rache für Hannelore auf den Allerwertesten des Bürgermeisters gesprüht…
32.
Becker, der sich langsam damit abzufinden begann, dass er den Sommer an seinem Schreibtisch verbringen würde, hörte in den Frühnachrichten vom Doppelmord in der Schorfheide, maß der Nachricht aber, weil die Brandenburger Kollegen den Medien wichtige Details der Tat verschwiegen hatten, keine große Bedeutung zu und ging auf das Verbrechen in der morgendlichen Lagebesprechung nur mit wenigen Sätzen ein.
Nach der Sitzung nahm sich der Hauptkommissar vor, den restlichen Freitag für die Aufarbeitung liegen gebliebener Vorgänge zu nutzen, kam zunächst auch gut voran und überlegte zur Mittagszeit, ob er sich kurz auf der Straße die Beine vertreten oder in die Kantine gehen sollte, als Mirjam hereinplatzte und ihn an die Verabredung am Samstagabend erinnerte. Becker stutzte einen Moment, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er seiner Kollegin versprochen hatte, mit ihr im Newton am Gendarmenmarkt auf seinen zwei Wochen zurückliegenden Geburtstag anzustoßen. Er entschuldigte sich für seine Schusseligkeit und schlug der Oberkommissarin vor, sie am nächsten Tag um 18 Uhr von zuhause abzuholen, als sein Telefon läutete. Missmutig nahm er den Hörer ab und brummte seinen Namen in die Sprechmuschel, hörte erst ein fraulich klingendes: „Sie werden verbunden!“ und vernahm wenig später die resolute Stimme eines Mannes:
„Hauptmann, Kripo Eberswalde, ich grüße Sie! Sie haben bestimmt vom Gemetzel in der Schorfheide gehört und…“
„Ja, in den Nachrichten!“, warf Becker ein und der Anrufer zögerte einige Sekunden, bevor er fortfuhr: „Das kann sein, aber dann wissen Sie allenfalls die Hälfte von dem, was geschehen ist! Aus ermittlungstaktischen Gründen haben wir den Medien einige Details verschwiegen, die Sie als Fachmann vielleicht interessieren werden…“
Der Hauptkommissar war jetzt hellwach, schaltete den Lautsprecher des Telefons ein, damit seine Kollegin mithören konnte und ließ sich dann vom Kriminalbeamten am anderen Ende der Leitung die Umstände der Tat schildern.
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