Todesengel (Gesamtausgabe)
Mietskaserne schon erstaunlich lange hielt und im Sommer fast alle Wohnungen mit ihrem dichten Laubwerk verschattete. Eigentlich hätte sie um diese Zeit in der Berufsschule den Monologen von Studienrat Leberecht lauschen sollen, aber danach war ihr heute nicht, jedenfalls noch nicht.
Erst wenn sich ihr Schutzengel endlich meldete, war sie vielleicht in der Lage, wieder an etwas anderes zu denken als an den Tag vor zwei Jahren, aber genauso gut konnte es sein, dass sie über das Verhör, in dem ihr der Fiesling vom Landeskriminalamt stundenlang zugesetzt hatte, nie mehr hinwegkam. Draußen regnete es immer stärker und in ihrem Kopf sammelten sich trübselige Erinnerungen wie Wassertropfen, die erst eine Pfütze, dann einen harmlosen Teich und zuletzt ein feindliches Meer aus Blut und Tränen bildeten. Bereit, alles zu überschwemmen, was sich an Unrat in ihrem Leben angesammelt hatte. Soweit sie zurückdenken konnte, war sie Gefangene des subproletarischen Milieus gewesen, das im Stadtteil Moabit vorherrschte, Körper und Geist zersetzte wie das auf dem U-Bahnhof Turmstraße und im Ottopark gehandelte Rauschgift und in das sie hineingeboren worden war wie eine bizarre Melange aus Essenresten und anderen Abfällen.
Wenn der Nichtsnutz aus Budapest oder woher auch immer ihr Erzeuger gekommen war, ein Kondom benutzt hätte, wäre ihrer Mutter eine Menge erspart geblieben und ihr selbst auch, aber die Beiden waren wahrscheinlich viel zu betrunken gewesen, als dass sie sich über so etwas Banales wie Empfängnisverhütung den Kopf zerbrochen hätten. Am Ende war der Strolch mit dem Aussehen eines Filmhelden und dem Charakter eines Lumpen auf Nimmerwiedersehen verschwunden und Mutter hatte sich nicht einmal bemüht, vor ihr zu verbergen, dass sie die ungewollte Brut hasste wie die Pest. Hatte sich nicht einmal darum geschert, dass ihre Tochter im Nebenzimmer alles mitbekam, wenn sie ihren Kneipenbekanntschaften für ein paar Groschen zu Dienstenwar und sich beim Vortäuschen des Orgasmus die Seele aus dem Leib schrie. So war es nicht weiter verwunderlich, dass sie früh an falsche Freunde geriet, mit zwölf Mitglied einer Jugendgang wurde und mit 14 Jahren so viel auf dem Kerbholz hatte wie ein Gewohnheitsverbrecher. Zum Glück erwischte sie die Polizei kurz darauf beim Einbruch in den benachbarten Großmarkt und weil sie jetzt bedingt strafmündig war, beließ es der Jugendrichter nicht mehr bei einem Achselzucken, sondern verurteilte sie zu hundert Stunden gemeinnütziger Arbeit und wies ihr einen Bewährungshelfer zu, der dafür sorgte, dass sie trotz fehlenden Schulabschlusses eine Lehrstelle bekam. Mit den Worten: „Ich gehe jetzt!“ verabschiedete sich ihre Mutter, bevor sie sich auf den Weg zum Jobcenter in der Sickingenstraße machte und sie reagierte mit einem müden „Tschüs!“, ehe sie sich in ihren Gedanken wieder dem Julitag vor zwei Jahren widmete, der als heißester Tag des Sommers in die Annalen eingegangen war. Sie trug damals ein luftiges Kleidchen, das mehr zeigte als verbarg, gab aber nichts darauf, dass der Chef sie mit Komplimenten überhäufte, sondern machte sich sogar einen Spaß daraus, ihn aufzugeilen. Schließlich war der Kerl über fünfzig und es für sie undenkbar, dass so einer es ernsthaft mit ihr treiben wollte. Als sie dann um 17 Uhr an der Haltestelle vor dem Firmengelände stand und auf den Bus nach Moabit wartete, der sich wieder einmal verspätete, war es für Berger, als er in seiner Luxuslimousine vor ihr anhielt, ein leichtes, sie mit dem Versprechen ins Auto zu lotsen, sie auf schnellstem Wege nachhause zu bringen. Vielleicht hatte der Kahlkopf anfangs nicht einmal vor, ihr an die Wäsche zu gehen, zumindest ließ sein Verhalten nicht darauf schließen, doch dann stierte er immer häufiger auf ihre nackten Beine, kam dabei offenbar auf dumme Gedanken und änderte plötzlich mit dem Hinweis, noch einen Kunden im Osten Berlins besuchen zu müssen, die Fahrtrichtung.
Irgendwann wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand und als der Boss schließlich in einen unbefestigten Waldweg einbog, spürte sie instinktiv, wenn auch viel zu spät, was er mit ihr vorhatte. Im nächsten Augenblick fiel er auch schon wie ein Tier über sie her und dass sie bald darauf ohnmächtig wurde, empfand sie im nach hinein sogar als Gnade, hätte sie sich doch sonst wahrscheinlich zu Tode geekelt.
Vierzehn Tage später beichtete sie alles ihrer Mutter und hoffte inständig, dass Elli ihr beistehen
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