Todesengel (Gesamtausgabe)
und den Sittenstrolch vielleicht sogar anzeigen würde, doch die gute Frau machte ihr stattdessen Vorhaltungen und meinte dann beiläufig, dass einem vorbestraften Mädchen erheblich schlimmere Dinge widerfahren konnten, als vom Chef herangenommen zu werden…
Danach versuchte sie lange, die Vergewaltigung zu verdrängen, fuhr sogar weiter zur Ausbildung in die Firma, aber es nutzte nichts. Mit jedem neuen Tag wurde ihr klarer, dass sie erst mit sich im reinen sein würde, wenn der Chef starb und irgendwann ging alles sehr schnell, gewann sie das Vertrauen ihres Schutzengels und war nach dem schmählichen Tod des Strolches fest davon überzeugt, dass jetzt alles gut werden würde. An diesem Glauben hielt sie fest, solange es ging, trotz der immer häufigeren Nächte, in denen sie keinen Schlaf fand, aber als sie der Kriminalbeamte vor einigen Wochen zum zweiten Mal nach ihrer Beziehung zu Berger befragte, drehte sie fast durch und war seither zu nichts mehr zu gebrauchen. In ihrer Not versuchte sie gestern Abend, Kontakt zum Schutzengel aufzunehmen, um sich mit ihm auszusprechen, hatte damit aber kein Glück und fuhr deshalb zum Lokal in der Motzstraße, in dem sie den Rächerinnen Rede und Antwort gestanden hatte, schrieb mit krakeliger Handschrift auf einen Zettel, dass sie sich am nächsten Tag um zehn Uhr umbringen werde und übergab ihn der Wirtin.
Jetzt war der neue Tag schon elf Stunden alt und es war klar, dass der Schutzengel ihr keinen Trost mehr spenden würde. Sie war mutterseelenallein mit der Schuld, die sie auf sich geladen hatte und es gab nur einen Ausweg aus dem Dilemma. Wie in Trance füllte sie ein Wasserglas bis zum Rand mit Weinbrand, trank das hochprozentige Gebräu mit wenigen Schlucken aus und schwebte dann, wie es ihr schien, auf das Fenster zu. Von draußen klatschten dicke Regentropfen gegen die Glasscheiben und sie verspürte eine tiefe Sehnsucht nach der Freiheit des Windes, der die Kastanie mit seiner unbändigen Kraft zerzauste, öffnete das Fenster, kletterte auf die Brüstung und wollte, als sie es im letzten Moment mit der Angst zu tun bekam, wieder ins Zimmer zurück, verlor aber wegen ihrer Trunkenheit das Gleichgewicht und stürzte mit einem gellenden Schrei in den Tod...
40.
Am dritten Montag im August brachte Becker seine Frau in aller Herrgottsfrühe zum Hauptbahnhof und fuhr dann weiter zu seiner Dienststelle. Unterwegs fragte er sich, was er in den kommenden Wochen ohne Carmen anfangen sollte und bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass er sich in eine Opferrolle drängte, die ihm nicht zustand. Gewiss hatte ihn der Kurzurlaub seiner Frau wieder näher gebracht und er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so erregenden Sex mit ihr gehabt hatte, aber das rechtfertigte noch lange nicht, dass er sich jetzt wie ein kleines Kind aufführte.
Immerhin hatte er Carmen im Frühjahr mit Mirjam betrogen und ob die Abende mit der Psychologin aus Wiesbaden so harmlos verlaufen wären, wenn sie sich als männermordender Vamp entpuppt hätte, wagte er auch zu bezweifeln. Becker legte eine CD ein, lauschte den Klängen eines Londoner Orchesters, das die 2. Symphonie von Beethoven meisterhaft interpretierte, ließ noch einmal die Ferientage Revue passieren und wandte sich in seinen Gedanken dann der Arbeit zu, die auf ihn wartete. Viel konnte in seiner Abwesenheit eigentlich nicht geschehen sein, weil sich seine Kollegen sonst bestimmt bei ihm gemeldet hätten, aber auch so erwartete ihn ein von Akten überquellender Schreibtisch und er fragte sich, wie lange er das doppelte Pensum noch durchhalten würde. Was bist du für eine Memme, dachte er im nächsten Augenblick und musste über seine Wehleidigkeit so herzhaft lachen, dass ihn die Fußgänger, die vor ihm den Zebrastreifen benutzten, um über die Straße zu kommen, wahrscheinlich für einen Idioten hielten.
Kurz nach sieben, viel früher als üblich, stellte er seinen Wagen auf dem den Beschäftigten des LKA vorbehaltenen Parkplatz hinter dem Dienstgebäude ab, spürte beim Aussteigen wieder einen stechenden Schmerz im rechten Knie und nahm sich vor, endlich einen Orthopäden zu konsultieren, obwohl er vor der überfälligen Gelenkspiegelung mehr Angst als Vaterlandsliebe hatte.
Wenig später begrüßte er die sichtlich überraschte Sekretärin mit einem saloppen: “Hei, Debora, wie geht’s?” und setzte sich, in seinem Büro angekommen, erst einmal hin, um sein Knie, das jetzt teuflisch wehtat, zu entlasten. Planlos nahm
Weitere Kostenlose Bücher