Todesengel (Gesamtausgabe)
nicht reinkommen?” riss ihn Carmen aus seinen Gedanken und er erhob sich schwerfällig, nahm sich zum hundertsten Mal vor, endlich abzuspecken und zog sich ein Hemd über, ehe er ins Haus trat und es sich neben ihr auf der Couch gemütlich machte. Zu seiner Überraschung hatte sie bereits eine Flasche württembergischen Rotwein aufgemacht, der vorzüglich mundete, der im Fernsehen laufende Spielfilm Zeit der Zärtlichkeit tat ein Übriges, um ihn der zuletzt schmerzlich vermissten Ehefrau näher zu bringen und so verlagerte sich das Geschehen schließlich ins Schlafzimmer, in dem es hoch her ging wie lange nicht mehr.
Irgendwann nach Mitternacht wachte der Hauptkommissar mit voller Blase auf, wälzte sich aus dem Bett und war auf halbem Weg zur Toilette, als er durch einen Türspalt Licht aus Annettes Zimmer schimmern sah. Missmutig schüttelte er den Kopf, erledigte sein Geschäft und sah dann bei der Tochter nach dem Rechten, die nach seiner festen Überzeugung im Bett lag und einen Groschenroman las, statt zu schlafen, wie es sich für eine 15-Jährige gehörte.
Vorsichtig öffnete er die Tür und staunte über den Anblick, der sich ihm bot. Annette saß vor ihrem Computer, hackte wild auf der Tastatur herum und war so sehr bei der Sache, dass sie sein Kommen gar nicht zu bemerken schien. Er überlegte, ob er die Tochter ausschimpfen oder einige mahnende Worte an sie richten sollte und entschied sich nach kurzer Bedenkzeit dafür, Milde walten zu lassen. Seine Kinder hatten ihn in den Wochen, in denen er die gemeinsame Mordkommission in Eberswalde geleitet hatte,äußerst selten zu Gesicht bekommen und so konnte es nicht verwundern, dass sie sich die Zeit inzwischen nach eigenem Gutdünken vertrieben.
Becker schlich sich von hinten heran, räusperte sich vernehmlich und befürchtete schon, die Tochter zu sehr zu erschrecken, doch hatte die ihn längst bemerkt, drehte sich lächelnd um und meinte: „Das Internet ist eine Wundertüte voller Überraschungen, Papa! Du weißt gar nicht, was du damit alles anfangen kannst!“
Becker strich dem Teenager übers Haar, genierte sich im selben Moment, weil ihn das Wissen um Kindesmissbrauch in allen Gesellschaftsschichten sogar vor harmlosen Berührungen seiner Töchter zurückschrecken ließ und wollte seine Hand schon vom Kopf nehmen, als ihn Annette bat, weiter zu machen und ihm, als er sie wieder streichelte, die Geheimnisse des weltumspannenden Netzes erklärte: „Du musst wissen, dass es Millionen Adressen gibt, die von Städten und Firmen ebenso wie die von Pornoanbietern und Einzelpersonen, die sich eine eigene Homepage leisten!“
Becker fragte besorgt, ob sie sich etwa irgendwelchen Schmuddelkram herunterlade, doch sie gluckste nur vor Vergnügen, quiekte: „Porno? Igittigitt!“ und setzte dann ihren Privatunterricht fort: „Am tollsten ist ein Chat mit Gleichgesinnten! Ich interessiere mich, seitdem wir uns im Deutschunterricht mit dem Roman Berlin Alexanderplatz und seiner Hauptfigur Franz Biberkopf befasst haben, für seinen Schöpfer Alfred Döblin und bin bei der Suche nach Materialien über ihn auf ein Portal gestoßen, in dem sich junge Menschen wie ich über seine Bedeutung für die heutige Zeit austauschen!“
Becker nickte artig, doch blieben ihm Annettes Ausführungen seltsam fremd. Er konnte zwar mit dem Computer in seinem Büro halbwegs umgehen, aber warm geworden war er mit dem wundersamen Medium nie, weil er sich, als die ersten PC auf den Markt gekommen waren, schon zu alt für den technischen Fortschritt gefühlt hatte. Zum Glück hatte wenigstens seine Tochter das Sprichwort von Hans, der nicht mehr lernt, was Hänschen nicht gelernt hat, frühzeitig beherzigt und so lobte er Annette für ihren Wissensdurst, bevor er sie mit sanftem Druck dazu brachte, endlich schlafen zu gehen.
Im weiteren Verlauf der Nacht träumte er wie lange nicht mehr. Die ersten Bilder sahen ihn in einem Auswahlverfahren mit Mirjam und seiner Frau als Konkurrentinnen, die nächsten vor Staatsanwältin Mohr knien, die auf Frankensteins Stuhl im LKA saß und die letzten in einer Szene, die ihn beinahe zu Tode erschreckte: Annette saß wieder vor ihrem Computer, erklärte ihm die Funktionen des Internets, rief beispielhaft eine ihr vertraute Website auf und verabredete sich mit dem Hinweis, sie wolle ihren Vater loswerden, zum Chat mit einer Mörderbande...
39.
Marga stand am Fenster und starrte voller Wehmut auf die Kastanie, die sich im Innenhof der
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