Todesengel: Roman (German Edition)
Raums, wie man so sagt. Irrational.« Ortheil machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Statistiken sind veröffentlicht, im Internet zu finden, für jedermann einsehbar. Googeln Sie, meine Damen und Herren. Bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil.« Er klang, als verteile er gerade großzügig Geschenke.
Ingo zückte die Karte, die er für diesen Fall vorbereitet hatte. »Es wird Sie nicht wundern, Herr Oberstaatsanwalt, dass ich das längst getan habe. Und ich bin dabei außer auf die Kriminalstatistiken auch auf eine Dissertation gestoßen, die von einem Bremer Juristen namens Daniel Heinke stammt. Er hat bei einem Vergleich dieser Statistiken eine Menge Unklarheiten vorgefunden, was die Definitionen der verschiedenen Straftaten anbelangt. Unter anderem hat er festgestellt, dass die Zahlen, die in den polizeilichen Kriminalstatistiken unter dem Stichwort ›Gewaltkriminalität‹ aufgeführt werden, Körperverletzungen nach Paragraf 223 Strafgesetzbuch überhaupt nicht enthalten, obwohl das von den Fallzahlen her die bedeutendste Deliktform der Gewalt gegen Menschen ist. Wenn man diese Schönrechnerei bereinigt – was er getan hat –, stellt man fest, dass die Gewaltkriminalität in den letzten zehn Jahren tatsächlich um vierzig Prozent zugenommen hat, für sich allein betrachtet sogar um über sechzig Prozent.«
Ortheil ließ sich davon nicht beeindrucken. Medienprofi eben. »Sie werden verstehen, dass ich lieber den Angaben der Polizeibehörden vertraue als irgendwelchen Rechenkunststücken, die Sie jetzt aus dem Ärmel zaubern.«
Okay. Sich nicht beeindrucken lassen, das konnte Ingo auch.
»Schaut man sich die Fälle selbst an«, fuhr er fort, als hätte Ortheil gar nichts gesagt, »muss man schon blind sein, um nicht zu sehen, dass die Brutalität der Taten zugenommen hat, und zwar drastisch. Schlägereien hat es natürlich immer gegeben – aber früher war Schluss, wenn das Opfer am Boden lag. Heute fängt es dann erst an. Und Tritte gegen den Kopf sind nicht mehr tabu, sondern geradezu Standard. Umgekehrt werden viele Fälle von Gewalt, die vor zehn Jahren noch justiziabel gewesen wären, heute gar nicht mehr angezeigt.«
»Die Zahl der Kapitalverbrechen sinkt in Deutschland seit Jahren und konstant«, beharrte Ortheil, nun endlich einigermaßen aufgebracht. »Lügen Sie doch hier nicht herum!«
»Aber der Prozentsatz der daran beteiligten Jugendlichen steigt«, erwiderte Ingo sofort. »Und das, obwohl es heute prozentual weniger Jugendliche gibt als je zuvor. Das ist nämlich der nächste statistische Schwindel: Die Zahlen zur angeblich zurückgegangenen Jugendkriminalität berücksichtigen die veränderten demografischen Verhältnisse überhaupt nicht. Allein in dieser Stadt hat die Zahl der Schüler in den letzten zehn Jahren um vierzigtausend abgenommen. Es sind also erheblich weniger Jugendliche, die immer noch fast genauso viele Straftaten begehen – umgerechnet auf die Köpfe ergibt das noch einmal eine Zunahme der Gewalt!«
Der Staatsanwalt sah Ingo entgeistert an. Dieses Argument war ihm offenbar neu.
»Die gefühlte Unsicherheit des öffentlichen Raumes, wie Sie es eben genannt haben«, schloss Ingo, »ist alles andere als irrational. Im Gegenteil, es ist eine mathematisch beweisbare Tatsache.«
Er stand rasch auf, ehe Ortheil etwas sagen konnte. Der Tontechniker hatte Anweisung, das Mikrofon des Staatsanwalts immer dann abzuschalten, wenn sich Ingo ans Publikum wandte. »Meine Damen und Herren, schauen wir uns an, wo sich der Herr Oberstaatsanwalt in jüngster Zeit noch geirrt hat.«
Auf sein Zeichen hin ließ die Regie drei kurze Videos ablaufen.
Das erste war ein Ausschnitt aus der Pressekonferenz, in der Ortheil gefragt wurde, wer der weiß gekleidete Mann, von dem Erich Sassbeck gesprochen hatte, seiner Meinung nach gewesen sein könnte, worauf der Staatsanwalt erwiderte: »Wir sehen keinen Anlass zu glauben, dass da wirklich ein weiß gekleideter Mann gewesen ist.«
Das zweite Video stammte aus der Aufnahme von Irmina Shahid. Ingo hatte das Originalvideo genommen und einen Ausschnitt gewählt, der einen Sekundenbruchteil länger war als der Clip, der veröffentlicht worden war: Man sah die strahlend weiße Gestalt des Racheengels hinter den beiden Jugendlichen auftauchen, die auf Sassbeck eintraten, sah ihn schießen – und sah auch noch andeutungsweise die Wirkung der aus nächster Nähe geführten Kopfschüsse!
Rado würde ihn vierteilen dafür.
Egal. Er hörte das Publikum
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