Todesengel: Roman (German Edition)
Fingern herunterzählte. Und Ende der Sendung. Abspann.
Als sich Ingo wieder zu Ortheil umdrehte, sah der ihn mit einem Blick an, aus dem blanker Hass sprach.
Ich bin der Stimme gefolgt, doch diesmal hat sie mich nicht hinausgeführt, sondern vor den Fernseher. Ich habe mich gewundert, ja. Ich gebe es zu. Aber ich habe beschlossen, zu vertrauen. Mich hinzugeben. Es ist nicht an mir, zu wissen, welchen Weg der Krieger zu gehen hat. Es ist nicht an mir, den Zustand der Gnade herbeizuführen. Gnade wird gewährt; es gibt kein Recht darauf.
Und so ist es gekommen, dass ich die Sendung sehe. Die Worte höre. Erkenne, dass dieser magere, furchtsame Moderator mich verstanden hat, beinahe besser als ich selbst.
Ich verspüre Erleichterung.
Nun wird doch noch alles gut.
Erich Sassbeck bestand darauf, noch gemeinsam ein Bier trinken zu gehen. Er war ganz aus dem Häuschen, klopfte Ingo immer wieder auf die Schulter und rief: »Gut gemacht! Dem Lackaffen haben Sie’s gezeigt!«
Irgendwann fing er an zu husten, und der Husten fing bald an, ihm wehzutun, weil die Rippenbrüche noch nicht richtig verheilt waren. Evelyn drang schließlich darauf, dass es Zeit für ihn sei, nach Hause zu kommen. Sie übernahm es auch, ihn dorthin zu bringen; der Sender zahlte das Taxi. Ingo begleitete die beiden noch zum Taxiplatz und nahm, nachdem sie abgefahren waren, selber eines, um sich nach Hause fahren zu lassen.
Als er die Wohnungstür öffnete, blinkte ihm die rote LED des Anrufbeantworters hektisch entgegen. Er machte Licht, schaute auf den Zähler. Der stand auf 22.
Zweiundzwanzig! Rekord. Ingo hatte gar nicht gewusst, dass das alte Ding zweistellige Zahlen anzeigen konnte.
Er drückte den Abspielknopf.
Die erste Nachricht stammte von Simon Schwittol, der sich bedankte, dass Ingo ihn am Dienstag in die Sendung geholt hatte: Das Spendenaufkommen habe sich seither fast verdoppelt. »Wollte ich Sie nur wissen lassen«, schloss er. »Würde mich freuen, wenn ich irgendwann wieder von Ihnen höre. Alles Gute!«
Ingo musste lächeln. Dienstag. Das schien schon ewig her zu sein.
Die nächste Nachricht bestand nur aus ein paar Sekunden Rauschen, dann wurde am anderen Ende aufgelegt. Dann noch einmal Rauschen, noch einmal knack. Rauschen, knack. Rauschen, zur Abwechslung mal ein Atmen, knack. Und immer so weiter. Keine einzige Nachricht.
Melanie vielleicht. Wobei … Melanie hätte ihm eine Nachricht hinterlassen. Ach was – zweiundzwanzig Nachrichten!
Es war kalt in der Wohnung. Ingo befühlte die Heizkörper, drehte sie ein Stück höher. Der Winter kam. Er zog die Jacke aus, hängte sie auf, behielt den Schal an. Als er gerade dabei war, die Schuhe auszuziehen, klingelte das Telefon wieder.
Da er sowieso davor saß, nahm er noch während des ersten Klingelns ab. »Ja?«
»Ich kenn deine Telefonnummer, und ich weiß, wo du wohnst«, sagte eine tiefe, kalte Stimme. »Der Racheengel, den du so toll findest, hat meinen Bruder umgebracht. Überleg dir also in Zukunft, was du sagst.«
22
Einen schrecklichen, schrecklichen Moment lang bekam Ingo keine Luft mehr. Dann klackte es am anderen Ende der Leitung, und die Verbindung war unterbrochen.
Ingo stand wie erstarrt, sah das Telefon an, wusste nicht, was er tun sollte. Gab es einen Knopf, den man drücken musste, durfte man auflegen, verschwand irgendeine wichtige Information, wenn man das tat …?
Dann rang sein Körper nach Luft, laut, keuchend, und es war ihm egal, so was von egal, er legte auf und taumelte zum Sofa, merkte erst jetzt, wie er zitterte. Ein Drohanruf!
Irre. Mit so etwas hatte er nie gerechnet! Klar, er machte diese Sendung, sagte, was er dachte, fuhr den Typen an den Karren, diesen beknackten Arschlöchern da draußen, diesen hirnamputierten Gewalttätern, diesen gefühllosen Schlägern und brutalen Tottretern. Aber das passierte doch alles nur in diesem dunklen, warmen, abgeschirmten Studio. Dass das hinausging in die Welt, das war ihm bloß theoretisch klar gewesen.
Ein Drohanruf. Was machte man da? Ingo sah sich um. War seine Wohnung verschlossen? Er sprang auf, eilte zur Tür, riss sie auf, spähte hinaus in den Flur, der aussah wie immer und nach gedünstetem Kohl stank wie immer, schlug sie wieder zu, rammte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum, zweimal.
Lächerlich. Allein, wie die Tür sich anfühlte! Dünn, nur zwei Zentimeter, und wahrscheinlich nicht mal richtiges Holz, sondern irgendwas Billiges, Hohles, Zusammengepapptes. Weit
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