Todesengel: Roman (German Edition)
ächzen.
Wobei er das nicht für die Leute hier im Studio gemacht hatte, sondern für die Typen da draußen, die sich nichts dabei dachten, jemanden zum Krüppel zu schlagen, nur weil ihnen danach war.
Das dritte Video hatte er Rado regelrecht abringen müssen: ein Ausschnitt aus der Vernehmung dieses ominösen Sven Dettar, über den man immer noch nichts wusste. Es war die Stelle, an der er sagte: »Da hält mir der Engel eine Pistole vors Gesicht und sagt, ›Von jetzt an werden alle, die Schwächere oder Unschuldige angreifen, sterben. Du bist die letzte Ausnahme, die ich mache.‹«
Danach Stille. Erschrockene, schreckliche Stille.
»Begrüßen Sie nun bitte meinen zweiten Gast«, bat Ingo leise. »Den Mann, der, nachdem er Opfer brutalster Gewalt geworden ist, um ein Haar auch noch Opfer der Justiz geworden wäre: Erich Sassbeck.«
Ortheil, das sah Ingo mit Genugtuung, war blass geworden.
Es hatte Evelyn gar nicht so viel Mühe gekostet, ihren Schwiegervater zu diesem Auftritt zu überreden. Im Grunde, hatte sie gemeint, habe er nur wissen wollen, ob man ihn so würde schminken können, dass man die verblassenden Hämatome in seinem Gesicht nicht mehr sah. Als sie gesagt hatte, sie glaube schon, war er einverstanden gewesen.
Nun saß sie im Publikum. Ingo wusste nicht, wo, sah keine Gesichter vor dem Licht der Scheinwerfer. Er durfte auch nicht allzu sehr darüber nachdenken, dass sie hier war.
Erich Sassbeck kam langsam herein, mit mühsamen Schritten. Ingo wusste, dass das nicht gespielt war. Evelyns Schwiegervater war der erste Gast, mit dem er vor der Sendung gesprochen hatte, und da draußen in der grellen Beleuchtung der Garderobe hatte der alte Mann so fragil gewirkt, dass Ingo Zweifel gekommen waren, ob er ihm das zumuten durfte. Doch Sassbeck hatte darauf bestanden. »Jetzt bin ich schon hier«, hatte er gemeint, »jetzt erzähl ich auch, wie es war.«
Und das tat er. Er schilderte mit dürrer, tonloser Stimme, was an dem Abend vorgefallen war und was ihm die beiden Siebzehnjährigen angetan hatten. In genau dem gleichen Tonfall berichtete er, wie plötzlich, als er bereits mit seinem Leben abgeschlossen hatte, die strahlende Engelsgestalt auftauchte und ihn rettete.
»Und als ich wieder zu mir komme«, schloss er, sich die Hand auf die eingefallene Brust legend, »ist das Erste, was ich sehe, ein Kommissar, der mir erklärt, dass die Polizei mich vor Gericht stellen will!«
Ingo hätte ihn in diesem Moment küssen können. Wie er das gesagt hatte, mit dieser unvermittelt aus ihm herausbrechenden Verbitterung, die einen, nachdem er bis dahin mit zurückhaltender Stimme gesprochen hatte, richtiggehend ansprang – großartig.
Applaus. Verdient. Die Leute hörten gar nicht mehr auf.
»Ich verstehe Ihre Verärgerung«, sagte Ortheil mit sichtlichem Unbehagen, als es endlich wieder stiller wurde. »Aber die Polizei tut nur ihre Arbeit.«
»Eben nicht!«, fauchte Erich Sassbeck ihn an. »Sonst wäre mir das ja nicht passiert!«
Der Staatsanwalt gab den verständnisvollen Seelsorger. Die Hände ineinanderlegend, den Kopf leicht geneigt, im Gesicht den Ausdruck tiefsten Mitgefühls, sagte er: »Wir haben es hier nicht mit einem Versagen der Polizei zu tun, sondern mit einem Versagen der Gesellschaft. Es ist eine kalte Gesellschaft, die derartige Gewalt hervorbringt –«
»Ach, erzählen Sie mir doch nichts«, entgegnete Sassbeck unwirsch. »Das ganze Gerede kenne ich. Die soziale Not. Die schweren Kindheiten. Blah, blah. Ich kann das Gejammere nicht mehr hören. Als ob es die Jugend heutzutage so schwer hätte. Soll ich Ihnen von meiner Kindheit erzählen? Von den Freiheiten, die ich hatte? Keine nämlich. Fragen Sie irgendjemanden in meinem Alter, wie das war, damals. Wie ernst man uns Junge genommen hat. Gar nicht. Wie oft wir zu Wort gekommen sind. Gar nicht. Maul halten, hieß es.«
Ingo hob die Hand. »An dieser Stelle würde ich gerne auf die Vorstrafen der beiden Täter hinweisen.« Er zog die entsprechende Karte aus seinem Stapel. »Philipp Flach hatte mehrfach Schulverbot, weil er Mitschüler attackiert hat. Polizeilich aktenkundig wird er erstmals mit 15, wegen Ladendiebstahls. In der Polizeiakte steht, man habe von einer Verfolgung abgesehen . Vier Monate später Anzeige wegen Nötigung und gefährlicher Körperverletzung. Aktenvermerk: Verfahren eingestellt . Kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag ein Drogendelikt, das auch nicht weiter verfolgt wurde. Ein halbes Jahr darauf ein
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