Todesengel: Roman (German Edition)
Victoria.
»Ja, ja«, meinte er und eilte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Er zog ein Mobiltelefon aus der Tasche, warf einen Blick darauf und begann dann zu rennen.
Es ist schwer, in der Gegenwart zu bleiben, wenn man fühlt, wie einem die Zeit davonrennt.
Und das tut sie. Sind es noch Wochen, die ich habe? Ich glaube es plötzlich nicht mehr. Vielleicht sind es nur noch Tage.
Vielleicht ist es nur noch dieser eine Tag, diese eine Nacht.
Vielleicht sind es nur noch Stunden.
Die Zeit ist mein Feind geworden.
Es ist schwer, auf dem Pfad des Kriegers zu bleiben, wenn man den unwiderruflichen Untergang, das endgültige Scheitern auf sich zukommen sieht.
Und das sehe ich. Ich habe nicht erreicht, was ich zu erreichen erwartet habe, habe nicht bewirkt, was ich bewirken wollte.
Es ist schwer, im Zustand der Gnade zu bleiben, wenn man an seiner Mission zweifelt.
Tatsächlich kann man nichts tun , um in der Gnade zu sein. Sie widerfährt einem, oder sie widerfährt einem nicht. Deswegen heißt sie ja so.
Dann fällt mir wieder ein, was ich gelernt habe: dass alles bereits entschieden ist, schon längst. Es gibt nichts zu erreichen, nichts zu vollbringen – nichts dergleichen. An diesen Gedanken halte ich mich. Einen Gedanken festhalten: Das ist etwas, das ich tun kann.
Indem ich mir das vergegenwärtige, kehre ich zurück in die Gegenwart, in diesen einen Moment, der noch nie zuvor war und der nie wieder sein wird. Ich atme wieder Kraft und Zuversicht, spüre wieder das Geflecht der Seelen und Schicksale, das die Stadt erfüllt, höre Ängste, rieche Gefahr, schmecke Schmerz.
Wenn ich all das wahrnehme, weiß ich wieder, dass ich auf dem Pfad des Kriegers bin und nicht weichen werde. Dass ich mein Scheitern hinnehmen und dem Untergang furchtlos ins Antlitz blicken werde.
Und wenn ich ohne Furcht bin, kehre ich in die Gnade zurück.
Den Rest vollbringt eine Macht, die stärker ist als aller Menschen Wille.
26
»Sollen wir am Wochenende vielleicht was unternehmen?«, schlug Evelyn am Montagmorgen nach dem Frühstück vor. Kevin war schon gegangen.
»Ja, gute Idee«, meinte Ingo, obwohl er keine sonderliche Lust hatte. »Was denn?«
»Wir könnten ins Kino gehen.«
»Okay.«
»Oder wir gehen alle drei in diesen Freizeitpark, der im Frühjahr aufgemacht hat – Inner City Jungle oder wie der heißt. Kostas war mit seinen Kindern neulich drin und ganz begeistert.«
»Auch okay.«
Evelyn musterte ihn, eine steile Falte auf der Stirn. »Was willst du denn machen?«
Ingo hob die Schultern. »Puh. Ich? Du, das kann ich dir gerade beim besten Willen nicht sagen.«
»Wir müssen nicht. Gott behüte«, sagte sie spitz. Sie stand auf und begann, den Frühstückstisch abzutragen.
Die Luft war auf einmal zum Schneiden dick.
»Entschuldige.« Ingo räusperte sich. »Das nächste Wochenende … so weit kann ich zurzeit überhaupt nicht denken.« Sie würden doch nicht schon jetzt anfangen zu streiten?
Evelyn würdigte ihn keines Blickes. »Dass du Kevin am Freitag zum Training begleitest, ist aber hoffentlich noch gespeichert?«
»Kevin?« Ups. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Gut, dass sie es erwähnte. »Klar. Das ist … Ja. Freitag. Hatten wir ja ausgemacht.«
»Ich verlass mich nämlich drauf.«
»Kannst du«, sagte er im inbrünstigsten Pfadfinder-Ehrenwort-Ton, den er zustande brachte.
»Es irritiert mich eben, dass von dir überhaupt nichts kommt. Ich weiß nicht, ob du noch was anderes von mir willst als Sex und eine Wohnung, in der du dich verstecken kannst. Aber ich wüsste es gern. Wirklich. Ich wüsste gern, woran ich mit dir bin.«
Das verschlug Ingo die Sprache. Was hatte er denn gesagt? Nur das, was Frauen angeblich immer wissen wollten: die Wahrheit darüber, was in ihm vorging. Aber anscheinend war das auch nicht recht. Im Moment war das kommende Wochenende für ihn nun einmal noch unglaublich weit entfernt. Fünf Sendungen weit, um genau zu sein.
Himmel, die Frauen!
Es wurde nicht mehr besser. Ingo war froh, dass es Zeit war, aufzubrechen. Ihr Abschiedskuss war flüchtig und kühl, ehe sie in verschiedene Richtungen davongingen.
Ambick kam an diesem Morgen so spät wie möglich ins Büro, um es zu vermeiden, Staatsanwalt Ortheil zu begegnen. Der war heute im Gericht, hatte ihm aber eine Klebenotiz an den Computermonitor geheftet: Wie ist der Ermittlungsstand im Fall Racheengel? OB macht Druck. Bin vorauss. gegen halb zwölf zurück. Ortheil.
»Solche Zettel gehen einfach
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