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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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machst«, brummte ihr Mann.
    »Sie hat ja nur mit kranken Leuten zu tun. Opfert sich auf. So war sie schon als Kind.« Sie reichte Ambick den Zettel. »Ich frage mich oft, ob das noch etwas wird mit Enkelkindern. Ob ich das noch erlebe.«
    Am Mittwoch kurz vor elf kam der Kommissar noch einmal vorbei. Entschuldigte sich vielmals für die Störung, er hätte noch ein paar Fragen, ob sie Zeit habe. Sie bat ihn wieder herein und dann, aus einem Impuls heraus, nach oben ins Wohnzimmer. Als sie ihn fragte, ob er einen Tee wolle, sagte er: »Oh ja, gern. Am liebsten Earl Grey, falls Sie haben.«
    »Ist mein Lieblingstee«, entfuhr es ihr, ehe sie darüber nachdenken konnte, ob das eine angemessene Reaktion war. Er schien sich nichts dabei zu denken, war ganz fasziniert von dem Anblick des Regals, in dem ihre Sprachbücher standen.
    »Haben Sie wirklich alle diese Sprachen gelernt?«, fragte er, als sie mit dem Tablett aus der Küche kam. Es klang ehrfürchtig.
    »Ja«, sagte Victoria.
    »Isländisch? Arabisch? Singhalesisch? Hindi? Urdu?«
    Sie stellte die Kanne ab, verteilte die Tassen, goss ein. »Ich habe mir gedacht, es verbessert meine Marktchancen, wenn ich ausgefallene Sprachen lerne, für die Übersetzer schwer zu finden sind. Aus dem Englischen übersetzt irgendwie jeder, da ist nichts zu verdienen.«
    »Ja, sicher, aber das wird der größte Bedarf sein, oder? Ich meine, wann braucht jemand schon mal eine Übersetzung aus, sagen wir …« – er neigte den Kopf, ließ den Blick das Regal entlangwandern – »… sagen wir, aus Bengali?«
    »Selten«, gab Victoria zu. »Aber wenn, dann fragt man mich zuerst.«
    »Auch ein Gesichtspunkt.« Der Kommissar musterte sie, immer noch mit einem Staunen, das ihr gefiel. »Würden Sie mal was auf, hmm … Urdu sagen? Ich würde gern hören, wie das klingt.«
    Victoria schüttelte den Kopf. »Ich spreche die Sprachen nicht. Ich kann sie nur lesen .«
    »Ehrlich?« Das verblüffte ihn noch mehr.
    »Das ist das, was ich brauche«, erklärte sie. Und das war schwierig genug. Doch das behielt sie für sich. Es tat gut, einmal ein wenig bewundert zu werden.
    Er öffnete den Mund, und ihr war, als könne sie seine Gedanken lesen: Er wollte gerade sagen, aber wenn Sie verreisen, wäre es doch toll, die Sprache des Landes zu beherrschen , als ihm im selben Moment einfiel, dass sie ja nicht verreiste, dass sie die Länder, deren Sprachen sie lesen konnte, nie sehen würde, und sein Mund klappte wieder zu.
    »Faszinierend«, meinte er nur, lächelte matt und fuhr fort, zurück im amtlichen Tonfall des Ermittlers: »Frau Thimm, weswegen ich hier bin …«
    »Der Fall Holi«, sagte sie.
    »Ja.« Er faltete die Hände. »Ich war gerade bei den Eltern von Alexander Wenger. Kennen Sie die?«
    »Damals. Wie man die Eltern von Klassenkameraden eben kennt. Im Grunde nicht.«
    Er schlug die Augen nieder, als müsse er sich sammeln und könne das nicht, wenn er sie ansah. »Eine Familie, wie von einem Hammer getroffen. Schrecklich. Je länger ich darüber nachdenke, desto schrecklicher finde ich es.«
    »Wundert Sie das?«
    »Wundern? Das ist das falsche Wort. Bestürzt trifft es eher. Als Polizist hat man naturgemäß viel mit Opfern und Tätern zu tun, aber man neigt dazu, die Opfer aus dem Blick zu verlieren. Man will die Täter finden, stellen, vor Gericht bringen. Und dabei vergisst man leicht, dass deren Opfer nicht bloß Beweismaterial sind wie ein Fingerabdruck oder eine Blutspur, sondern Menschen, die nach allem, was ihnen widerfahren ist, weiterleben müssen.« Jetzt sah er sie doch an. »Es ist das erste Mal, dass ich Opfern anderthalb Jahrzehnte nach einer Tat begegne.«
    Victoria nickte ruhig. »So ist das. Am Anfang hat jeder Mitleid mit einem. Zwei, drei Wochen lang. Aber wenn man sich dann nicht berappelt hat, werden die Leute ungeduldig. Und wer nach Monaten, nach Jahren immer noch leidet, mit dem will keiner mehr etwas zu tun haben.«
    Er musterte sie aufmerksam. Es war ihr nicht unangenehm. »Heißt das, dass Sie niemanden haben, der Sie ab und zu besucht?«
    »Nicht einen.«
    »Wie kann man so leben?«
    »Wenn einem nichts anderes übrig bleibt.«
    Es schien ihn Mühe zu kosten, sich wieder auf den Zweck seines Besuchs zu besinnen. »Ich frage mich immer noch, wer mir den Hinweis auf den Fall Holi hat zukommen lassen. Und warum. Und warum der Betreffende nicht mehr gesagt hat als das. Warum er nicht einfach geschrieben hat, was er weiß.« Eine winzige Pause, dann: »Oder

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