Todesengel: Roman (German Edition)
ihr einen gesetzlichen Vormund zuteilte, ihr, einer 24-Jährigen, die mehr Fremdsprachen beherrschte als an der hiesigen Universität gelehrt wurden, die ihr eigenes Geld verdiente, jede Menge davon! Es war eine Demütigung gewesen, um einen Lokaltermin bitten, ja, betteln zu müssen, der ihr nach langem Hin und Her gnadenhalber gewährt und natürlich zum Vorwurf gemacht worden war. Doch kalte Wut war ihr Helfer gewesen. Sie hatte der Richterin Rede und Antwort gestanden, hatte glasklar argumentiert und stählern darauf beharrt, ihre eigene Herrin zu sein und bleiben zu wollen, und das hatte die Richterin schließlich akzeptiert.
An die Tage danach, an das Zittern, das nicht enden wollende Erbrechen, an all die hilflosen Tränen … daran wollte sie jetzt nicht denken. Das war es wert gewesen.
Da. Sie war schon an der Ampel. Eine neue Ampel, größer, massiver, leuchtender als früher. Das war auch nötig, denn die Autos fuhren viel schneller als früher, und ihre Anzahl schien sich verdoppelt zu haben. Doch die Ampel hielt sie trotzdem auf. Victoria überquerte die Straße, einfach so, getragen von rot glühender Wut und dunkelgrünen Pillen.
Peter, ich komme …
Schaufenster, so groß, so bunt, so hell erleuchtet: die hatte sie ganz vergessen gehabt. Hektische Leute, beim Gehen telefonierend, kaum wahrnehmend, was um sie herum geschah: befremdlich. Bäume entlang der Straße, vom Herbst in unterschiedlichem Grade entlaubt: manche kahl, andere zierten sich noch. Wie eine Reise in ein fernes Land kam ihr der Weg vor, wie ein Abenteuer, ja, ein farbenprächtiges, tollkühnes Abenteuer!
Die Wut wandelte sich in ein fast ekstatisches Hochgefühl.
War das gut? Sie wusste es nicht. Allzu viel nachdenken wollte sie sowieso nicht. Hauptsache, es trug sie weiter. Hauptsache, sie konnte vor ihn hintreten und sagen, Peter, warum? Warum nur?
Befremdete Blicke trafen sie hin und wieder. O ja, das entging ihr nicht! Es sprach sie niemand an, zum Glück, aber so mancher dachte sich wohl seinen Teil. Egal. Sollten sie denken, was sie wollten.
Doch dann erreichte sie die Kreuzung Marinus-Schöberl-Straße, von wo aus sie sah, woran sie bis zu diesem Moment nicht gedacht hatte, nämlich wie der Weg weiterging. Dass sie über die Brücke musste. Dass es anders nicht ging, weil die Sankt-Jakob-Kirche auf der anderen Seite des Flusses lag. Das ließ ihre Wut erlöschen, die Kraft, die sie getragen hatte, versiegen, riss ihr Hochgefühl weg wie eine billige Maske. Stattdessen fühlte sie ihre Knie weich werden, spürte ein Zittern aus ihren tiefsten Tiefen aufsteigen, ein Zittern, das, wie sie wusste, nur noch stärker und stärker werden würde, und gegen das sie nichts ausrichten konnte, ein Zittern, das mächtiger war als sie. Egal, was sie sich darüber sagte, wem sie dieses Zittern verdankte, egal, wie sie sich bemühte, die Erinnerungen wieder wachzurufen und damit die heiße Wut, nichts half. Sie musste stehen bleiben, sich anrempeln lassen, musste die Hand nach einem Halt ausstrecken, fand nichts außer dem Mast einer Laterne, den sie umklammern konnte, und so blieb sie stehen, während das Zittern kam und kam und es keine Rettung davor gab, wie es nie Rettung gegeben hatte, niemals, nie.
Es war regnerisch und schon beunruhigend dunkel, als Ingo sich schließlich auf den Weg zum Sender machte. Er hatte doch noch geduscht und reichlich Wechselwäsche für die kommenden Tage in einer Reisetasche mitgenommen. Wieder konnte er sich nicht überwinden, die U-Bahn zu nehmen, schaukelte lieber auf den umständlichen Buslinien doppelt so lange durch die Stadt. Manchmal schaute ihn jemand an, was jedes Mal beklemmend war, weil er nicht wusste, ob der Betreffende ihn vom Fernsehen her erkannte oder ihm ans Leder wollte … Ingo blickte jeweils betont gleichgültig beiseite, mit klopfendem Herzen, und blieb unbehelligt.
Auf dem Weg von der Bushaltestelle zum City-Media-Gebäude endete seine Unsichtbarkeit. Leute standen da, mit Transparenten, Spruchbändern und Plakaten. Gewalt ist keine Lösung las er und Nein zum Krieg in unseren Straßen , Regenbogenfahnen wurden geschwenkt und blaue Wimpel mit Friedenstauben darauf, und ein paar junge Frauen spielten Gitarre und sangen Give Peace A Chance . »Hören Sie auf, einen Mörder zu unterstützen«, rief man Ingo zu, begleitet von Blicken, aus denen alles andere als Friedfertigkeit sprach.
Vor dem Haupteingang trat ihm ein in weiße, wallende Gewänder gekleideter Mann entgegen. Er
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