Todesengel: Roman (German Edition)
überhaupt anfahren zu können?«
Victoria nickte. »Das habe ich mich damals nicht gefragt, aber es stimmt. Im Prozess hat man rekonstruiert, dass er in Wirklichkeit in sein Büro unterwegs war und nur aus einem spontanen Entschluss gehalten hat, weil er gesehen hat, wie wir bedroht werden. Dass er in unsere Richtung müsse, hat er wohl nur so gesagt. Er wollte uns in Sicherheit bringen, ohne uns zu beunruhigen. Ich erinnere mich, dass er einen Moment lang zu seinem Auto geblickt hat, so, als überlege er sich, ob er uns da alle vier reinquetschen und mit uns wegfahren könne. Aber der Wagen hatte ja nur zwei Sitze.«
»Dann ist ihm das zum Verhängnis geworden. Dass er einen Sportwagen gefahren hat.«
»Ja.«
»Und weiter?« Er sagte es sanft. Nicht, als verhöre er sie. Sondern so, als interessiere ihn einfach, was sie erlebt hatte.
Victoria tat einen langsamen, tiefen Atemzug, schloss kurz die Augen, sah alles wieder vor sich: den klaren, hellen, warmen Tag, die Brückenpfeiler und die Stahlkabel, an denen das Bauwerk hing. Sie hörte das Brausen des Verkehrs, die Stimmen der anderen, roch die Autoabgase, fühlte den Boden unter ihren Füßen zittern, wenn ein Laster vorbeifuhr, spürte noch die Stelle am Arm, wo der Unhold sie brutal gepackt hatte …
»Wir haben uns unterhalten, während wir die Brücke überquert haben. Er hat uns nach unseren Lieblingsfächern gefragt und was wir mal werden wollten. Dann haben wir plötzlich hinter uns schnelle Schritte gehört. Wir haben sie nicht eher mitbekommen, weil die Autos so laut waren. Wir drehen uns um, und da kommen sie angerannt, alle drei, direkt auf Herrn Holi zu, und rennen ihn einfach um.«
Schreie. Ein Leib, der unter der Wucht des Aufpralls zu Boden fällt. Hass, so intensiv, dass er körperlich zu spüren ist.
Schwärze. Stillstand. Vergessen.
Sie ist verloren.
Victoria wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie hörte, wie jemand etwas zu ihr sagte. Eine Sekunde? Eine Stunde? Es hätte jeder beliebige Zeitabschnitt sein können.
»Und dann?«, fragte der Kommissar behutsam.
Sie schloss die Augen. »Dann haben sie ihn totgetreten.«
Zu mehr war sie an diesem Tag nicht mehr imstande. Die Erinnerungen entzogen sich ihr, sie konnte nicht mehr unterscheiden, was tatsächlich passiert war und was nicht.
Der Kommissar merkte von selber, dass es vorbei war. Er bedankte sich freundlich, fast besorgt, erklärte, es sei ohnehin Zeit für ihn. Sie begleitete ihn die Treppe hinab.
»Ich glaube, eines Tages wird es vorbei sein«, sagte er, in der Tür stehend. »Eines Tages werden Sie wieder hinausgehen und die Welt zurückerobern.«
»Meinen Sie?«
»Ja. Sie sind eine starke Frau. Sie haben so viel geschafft, Sie werden auch das schaffen.« Ein flüchtiges Lächeln, mehr als ein Lächeln, der Anflug einer Sehnsucht, derer er sich wahrscheinlich gar nicht bewusst war. »Und dann würde ich Sie gern zu einem Eis einladen.«
Die Frau ging Ambick nicht aus dem Kopf, während er zurück ins Kommissariat fuhr. Sie wusste irgendwas, das sie ihm verschwieg, darauf hätte er wetten können.
Nicht gewettet hätte er darauf, wie sie seine Einladung auf ein Eis gefunden hatte. Er hatte das aus einem spontanen Impuls heraus gesagt, und irgendwie schien sie schockiert gewesen zu sein. Hatte ihn wahrscheinlich für unverschämt gehalten. Für aufdringlich.
Schwer zu sagen. Während er sich im zähem Stop-and-Go auf eine Ampel zuquälte, überließ er sich der Vorstellung, wie er, wenn alles irgendwann vorbei und geklärt war, Victoria Thimm regelmäßig besuchen würde. Wenn er sie schon nicht aus ihrem Gefängnis herausholen konnte.
Justus, alter Junge, sagte er sich, sie gefällt dir! Gib’s zu!
Das Krachen des Polizeifunks riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Einsatz in Unterthalerried, für den Verstärkung angefordert wurde. Ging ihn nichts an. Aber die nächste Grünphase entließ ihn endlich auf die Überallbrücke, die so hieß, weil Ernst Überall sie erbaut hatte, der berühmte Architekt.
Weit gespannt überquerte die Brücke die S-Bahn-Geleise und den Fluss. Das Geländer schien zu flimmern, wenn man schnell daran vorbeifuhr. Da, eine Gedenktafel, wo es passiert war. Immer noch Blumen darunter – wer die wohl hinstellte?
Fünfzehn Jahre her, Mensch. Anfang zwanzig war er gewesen, frisch an der Polizeihochschule, unglücklich verliebt. Kathrin. Heute war ihm klar, dass sie recht gehabt hatte. Sie hätten tatsächlich nicht zusammengepasst.
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