Todesengel: Roman (German Edition)
sie.«
Victoria ließ die unausgesprochene Frage eine Weile in der Luft hängen, ehe sie sagte: »Ich war es nicht.«
»Das wollte ich Ihnen nicht unterstellen –«
»Man nennt das ›auf den Busch klopfen‹, glaube ich.«
»Ich würde es nur gerne verstehen.«
Sie hielt seinem Blick stand. Er hatte sympathische Augen. Es gefiel ihr, dass er hier war, dass sie Besuch hatte, spürte, dass sie wollte, dass er noch blieb, ja, und warum nicht einen Schritt weitergehen? Sie war am Tag zuvor gescheitert, aber trotz allem hatte ihr die Erfahrung Mut gemacht.
Ein bisschen zumindest.
»Soll ich Ihnen erzählen, wie es war?«, bot sie an.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Doch«, sagte sie. »Es macht mir etwas aus. Aber ich will es trotzdem tun.«
Er nickte. In seinem Blick schimmerte es. »Gut«, meinte er.
Victoria setzte sich ihm gegenüber, und nun war es sie, die woandershin schauen musste, um sich zu sammeln. Um die Kraft zu finden, den dicken Knoten in ihrem Bauch zu durchstoßen, der sie daran hindern wollte, Erinnerungen wachzurufen, den Schmerz zu spüren, Worte dafür zu finden.
»Es war ein Dienstag«, begann sie endlich. »Dienstags hatten wir in dem Jahr eine Stunde später Schule, und wir sind immer gemeinsam gegangen.« Sie fühlte Trauer aufsteigen. »Es wäre überhaupt nichts passiert, wenn wir nicht die erste Stunde freigehabt hätten. Furchtbar, das zu denken.«
Der Kommissar schwieg, hörte nur zu.
»Es war Frühling. Ein strahlend schöner Frühlingsmorgen. Unten an der Einmündung in die Helmut-Albreit-Straße haben die Weidenkätzchen geblüht, auf dem Mittelstreifen die Blumen, und es hat überall geduftet, nach allen möglichen Blüten. Es war warm, sonnig …« Sie hielt inne. »Ich weiß noch, dass ich mir unterwegs überlegt habe, wann ich mir wohl das erste Eis kaufen kann. Eis. Damals war ich ganz verrückt danach. Aber ich habe seither keines mehr gegessen.«
Alexander war in ihrer Klasse gewesen. Ulli in der Parallelklasse, mit Alex befreundet. Peter in der Klasse darüber, ein Jahr älter als sie und ihr heimlicher – nein, damals schon nicht mehr heimlicher – Schwarm, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Ullis Eltern hatten im Marderweg gewohnt (sie waren inzwischen weggezogen, hatte sie gehört), Peters Mutter, die geschieden war, im Eichhörnchenweg. Die Eltern von Alexander in der Siebenschläferstraße …
Aber das war sicher nicht so wichtig. Oder der Kommissar wusste es schon.
»Wir haben beschlossen, den Weg zu Fuß zu gehen. Das war nicht weit, nur über die Brücke und dann noch ein paar Querstraßen. Bei gutem Wetter war man schneller da, als wenn man die U-Bahn genommen hätte – Linie 2, nach zwei Haltestellen umsteigen in die 13, die meistens grad raus ist, aussteigen am Sollnplatz mit der endlosen Unterführung bis zum Ausgang Kleistgymnasium … Über die Brücke zu gehen war auch immer interessant. Wir haben oft über den Gleisen gewartet, bis eine S-Bahn kommt, und runtergespuckt. Wenn ein Kohlefrachter unter der Brücke durchgeschippert ist, hat Alex überlegt, was passieren würde, wenn man eine brennende Fackel auf die Kohlen runterwerfen würde. Wie stark sie sein müsste, damit die Ladung anfängt zu brennen. So Blödsinn eben.«
Einmal hatte es Alexander sogar versucht: Er hatte ein Billigfeuerzeug so umgebaut, dass es nach dem Anzünden nicht mehr erlosch, wenn man den Drücker wieder losließ. Aber die Flamme war dann beim Runterfallen ausgegangen.
Das musste der Kommissar auch nicht erfahren.
»An der Ecke, bevor der Fußweg auf die Brücke geht, war damals ein Gasthaus mit einer Menge Kaugummiautomaten vor dem Eingang – sechs oder sieben Stück. Davor gab es ein paar Parkplätze, auf der anderen Seite ging es zu den Uferpromenaden, wo wir nie hin sind, weil das ein Treffpunkt für Penner war. Ich weiß nicht, ob das heute noch so ist.«
Der Kommissar hob entschuldigend die Hände. »Ich bin erst vor Kurzem hergezogen. Ich meine, dass ich an der Ecke ein chinesisches Restaurant gesehen habe. Auf den ehemaligen Uferpromenaden hat man teure Eigentumswohnungen errichtet. Die Obdachlosen sammeln sich meines Wissens eher im Riedmann-Park in der Stadtmitte.«
»Die Stadt hat sich wahrscheinlich mehr verändert, als ich ahne.«
»Das kann ich nicht beurteilen. Ich kenne sie nur so, wie sie heute ist.«
Victoria sah zur Seite. Damals. Es ging um damals. Es musste raus. Es wollte raus, und das war der Moment. Sie durfte ihn nicht
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