Todesengel: Roman (German Edition)
weitere Laufbahn als Journalist vergessen.
Er war längst außer Atem, als es eine Treppe hinaufging, von der er nicht mal sah, wohin sie führte. Einfach dem leuchtenden Mann nach, der wenig Neigung zeigte, auf ihn zu warten.
Ingo fragte sich schnaufend, was um alles in der Welt der Racheengel hören mochte? Er hörte nichts außer seiner eigenen Lunge, die arbeitete wie ein Blasebalg, und dazu das Geräusch seiner eigenen Schritte.
Er war eben nicht im Zustand der Gnade. Daran musste es liegen.
Wieder erschütterte eine unter ihnen hindurchfahrende U-Bahn das Bauwerk. Der Racheengel blieb stehen, wartete, bis Ingo heran war.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte er mit kalter Erbarmungslosigkeit in der Stimme.
Ingo war außerstande, irgendetwas zu sagen, nickte nur, vergewisserte sich, dass die Kamera immer noch lief. Keine Atempause, es ging weiter. Während er der strahlend hellen Gestalt folgte, kam ihm zu Bewusstsein, was er da im Begriff war zu tun: Er würde eine Aktion des Racheengels filmen. Das hieß, er würde unter Umständen – sehr wahrscheinlich sogar! – filmen, wie ein oder mehrere Menschen aus nächster Nähe erschossen wurden. Böse Menschen, das schon, aber trotzdem. Man würde ihm eine Mitschuld an ihrem Tod geben, ihn zum Mitwisser erklären, und durchaus nicht zu Unrecht. Wie würde er sich da später herausreden? Was würde er antworten auf die Frage, wieso er die Tat nicht verhindert habe?
Auf keinen Fall die Wahrheit: dass er sie gar nicht verhindern wollte .
Und dann, plötzlich, hörte er es auch.
Die Schreie.
Viele.
Real!
Und so aggressiv, dass es ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagte.
Eine Chance war es, ja. Aber es war auch eine Gefahr. Nicht nur eine juristische, sondern eine ganz konkrete Gefahr für Leib und Leben. Eine Gefahr, als schwarzes Kreuz auf einer Karte des Brachlands zwischen den Stadtteilen Dahlow und Spannwitz zu enden.
In diesem Augenblick kam sie ihm, die Idee, die ihn für den Rest seines Lebens verfolgen sollte. Die ihn quälen sollte, wann immer er einen Tropfen Blut sah. Die ihn den Tränen nahebringen sollte, wann immer er eine Unterführung durchquerte. Die er sich niemals vergeben sollte.
Doch das ahnte Ingo Praise in dem Moment noch nicht. Im Gegenteil, er hielt diese Idee für eine geniale Eingebung, weswegen er sie sofort umsetzte, ohne zu zögern.
»Ausgerechnet jetzt«, sagte er, für das Mikrofon der Kamera bestimmt, »ist mir das Schuhband gerissen.« Er stolperte etwas, blieb stehen, ging rasch in die Knie. Er achtete darauf, das Objektiv der Kamera ins Leere blicken zu lassen, denn tatsächlich hatte er gar keine Schuhe zum Schnüren an, sondern schon seine uralten, gefütterten Winterstiefel mit Reißverschluss.
Während er tat, als fingere er an seinen Schuhen herum, behielt er den Racheengel im Blick, ließ ihn Vorsprung gewinnen, zwanzig, dreißig Meter. Dann richtete Ingo sich wieder auf und eilte ihm nach. Ein guter Abstand, beglückwünschte er sich. Er würde alles sehen, was geschah, dokumentieren, wie es geschah, und doch in Sicherheit sein, nicht betroffen, außer Gefahr.
Da vorne wurde es jetzt hell, zeichneten sich blasse Rechtecke ab, Glastüren, die mit Packpapier abgeklebt waren. Der Racheengel öffnete eine von ihnen, stieß sie auf, verblasste vor dem Neonlicht, das den Raum jenseits davon erfüllte. Ein Durchgang in die Ladenpassage, wie es aussah. Jetzt hörte man das Kampfgeschrei überdeutlich. Es klang nach einem regelrechten Massaker.
Doch der Racheengel war ja zur Stelle, am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Genau wie er es versprochen hatte.
Ingo holte auf. Jetzt. Voll mit der Kamera drauf, wie der Racheengel hinaus in die Passage trat, die Pistolen hob, zielte. Eine Sekunde, bevor Ingo ihn erreicht hatte und sah, was überhaupt los war, schoss er, zwei Mal.
PENG! PENG!
Der Knall dröhnte markerschütternd laut, lauter, als sich Ingo so etwas je vorgestellt hatte. Mit dem Gefühl, taub geworden zu sein, schwenkte er die Kamera herum, um die Szenerie zu erfassen. Er sah im Sucher mehrere Jugendliche, die bis eben offensichtlich heftig miteinander gekämpft hatten. Zwei von ihnen sanken gerade zu Boden.
Und einer davon war …
»KEVIN!«
36
Der Aufschrei des Journalisten ließ Alex in der Bewegung erstarren. Alles an diesem Schrei klang falsch, so entsetzlich falsch, dass ihm das Bild des Ganzen entglitt, dass er die Einheit mit allem verlor, dass der Pfad des Kriegers unsichtbar wurde.
Was
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