Todesengel: Roman (German Edition)
verdammt noch mal, schnell!«
»Die sind schon unterwegs«, sagte einer der Jungen, ein großer, ruhiger. Er hob Ingos Handy auf, wischte es an seinem T-Shirt ab. »Müssen jeden Moment da sein.«
»Okay …«, konnte Ingo nur sagen, was denn sonst? Was blieb ihm denn anderes übrig?
Eine winzige Bewegung, ein kaum merkliches Schwererwerden des Körpers auf seinem Schoß. Kevin war ohnmächtig geworden.
»He!« Ingo tatschte ihm die Wangen. »Kevin! Dableiben. Du musst wach bleiben, he. Nicht abhauen.« Jemand – der Mann im weißen Kittel – drückte etwas auf Kevins Wunde, irgendwas Weißes, Pralles, Stoffiges, legte Ingos Hand darauf, und Ingo presste, ja, presste mit der einen Hand und versuchte mit der anderen, Kevin zurückzuholen. »He, Sportsfreund. Komm. Wach bleiben!«
Kevin schlug die Augen flatternd wieder auf, dunkle, müde Augen, die aussahen, als hätten sie bereits einen Blick in eine andere Welt geworfen. »Ich hätt besser drüben gewartet, was?«, hauchte er.
»Hach …« Ingo sah ihn hilflos an. Was sollte er denn sagen? Was denn?
»Ich wollte halt … dazugehören«, wisperte der Junge weiter. »Ich hab noch nie irgendwo dazugehört.«
»Kevin?« Die Lider flatterten schon wieder, die Augäpfel drehten sich nach oben. »Kevin, verdammt noch mal!«
Alex blieb einfach sitzen. Eine leere Bierflasche rollte jedes Mal, wenn die U-Bahn hielt, zwischen zwei Sitzen nach vorn, und wenn die Bahn anfuhr, rollte sie wieder zurück. Grlrlrlrl – BONK. Ronglronglrongl – DONK.
Der Wagen war leer. Wenn die Bahn hielt, gingen die Türen auf, manchmal standen Leute draußen, doch wenn sie ihn sahen, stiegen sie nicht ein, sondern suchten sich einen anderen Waggon. Niemand wollte wissen, was mit ihm war, niemand hielt den Zug an, niemand tat irgendetwas.
Alex lehnte den Kopf nach hinten, schloss die Augen, horchte auf das Rattern der Räder und das Surren der Motoren. Er war bereit, aufzugeben. Alle Kraft in ihm war erloschen, ausgepustet, wie man eine Kerze ausblies.
Aber irgendwann zog er sich doch hoch, mühsam, musste sich festhalten, weil die U-Bahn so schwankte und schaukelte. Er hatte das Gefühl, aus gebranntem Ton zu bestehen. Ein Schlag und klirr , er würde in tausend Stücke zerspringen.
Was jetzt? Wohin?
Er betrachtete die leeren Sitze. Manche waren zerschnitten und wieder repariert worden, andere waren bemalt, mit sinnlosen Symbolen. Über den Fenstern die üblichen Plakate. Lernen Sie jetzt Business-Englisch, mühelos und schnell. Schwarzfahren kostet 60 €. Jesus liebt dich. Er fühlte Blut an seinem linken Arm herabrinnen, Blut und Schweiß. Nur die Tränen fehlten, aber die würden schon noch kommen.
Wohin war er überhaupt unterwegs?
Da war eine Anzeige. Linie 10. Ein Leuchtpunkt zeigte die nächste Haltestelle an. Alex starrte darauf, versuchte herauszufinden, in welche Richtung sie fuhren. Da, Haltestelle Europacenter. Also ging der Zug in Richtung Wanndorf.
Die übernächste Haltestelle war der Niendorfer Platz. Darunter prangte ein kleines i in einem Quadrat, daneben der Hinweis für Touristen: Sankt-Jakob-Kirche .
Lag es an der früh einsetzenden Dämmerung, an der seltsamen, muffigen Kirchenluft, am Widerschein der Kerzen? Oder lag es an aufbrechenden Erinnerungen? Auf jeden Fall wurde Peters Gesicht zu einer starren Maske, fast, als würde es zu Holz.
Er flüsterte. Sein Blick ging ins Leere, in eine Vergangenheit, die immer noch lebendig war. »Als sie auf Herrn Holi eingetreten haben … Ich hab ganz vorne gestanden, erinnerst du dich? Ich hab gesehen, wie sie seinen Kopf gegen das Geländer getreten haben, wieder und wieder. Ich hab gesehen, wie sein Gesicht sich richtiggehend verformt hat, zu einer blutigen Masse geworden ist …« Er hielt inne. Sein Atem ging nur noch stoßweise. »Ich hatte so Angst. Ich war mir sicher, wenn sie mit ihm fertig sind, machen sie mit uns das Gleiche.«
Victoria konnte seine Angst spüren, diese uralte Angst, die all die Jahre eingekapselt in seiner Seele vor sich hin geeitert hatte. Es war, als übertrage sie sich in diesem Moment auf sie, um sich mit ihrer eigenen Angst zu verbinden.
Sie flüsterte: »Ich hatte gar kein Geld mit. Ich dachte, sie zerschneiden mir bestimmt das Gesicht dafür. Wer so etwas mit einem Mann macht, hab ich gedacht, der zerschneidet auch einem Mädchen das Gesicht.«
»Wir haben da gestanden wie hypnotisiert.«
»Wohin hätten wir denn sollen?« Victoria sah es noch vor sich. Sie hatten die
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