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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Herzrasen beschert hatte und ein Glück, das ihr damals unfasslich erschien, alles übersteigend, was je einem Menschen zugestoßen sein konnte, ein Glück, für das sie in dem Moment jeden Himmel und jedes Paradies bedenkenlos eingetauscht hätte.
    Und dann war sie um genau dieses Glück betrogen worden.
    »Warum?«, flüsterte sie. »Warum bist du nicht zu mir gekommen? Nicht ein einziges Mal?« Es war ihr nicht so ergangen wie anderen Mädchen, die ihre Liebschaften vor ihren Eltern hatten geheim halten müssen. Ihre Eltern hatten Peter gekannt, akzeptiert, gemocht. Victorias Mutter hatte mit ihr lange, offene, praktische Gespräche über Sex, Empfängnisverhütung und derlei Dinge geführt ( lustige Gespräche waren das gewesen, an die sie mit warmer Dankbarkeit zurückdachte; eine ihrer kostbarsten Erinnerungen an ihre Mutter). Er hätte nicht das Geringste zu befürchten gehabt und hatte das auch gewusst!
    »Ich konnte nicht.« Auf seiner Wange erschienen seltsame Flecken, fast so, als würde er vor ihren Augen zu Marmor. »So wie du nicht aus dem Haus konntest, so konnte ich nicht zu dir kommen.«
    »Hattest du eine andere? War es deshalb?«
    »Ach was. Es gab nie eine andere.«
    »Dann versteh ich es nicht.«
    Er schwieg. Sie fühlte steinerne Kälte in sich eindringen. Die Dunkelheit der Kirche schien sich um sie herum zu schließen, als sei die Welt ringsum verschwunden und die Zeit zum Stillstand gekommen.
    »Ich war zu Hause eingesperrt«, sagte sie mit dem Gefühl, eine Anklageschrift zu verlesen. »Wenn ich nur einen Schritt vor die Tür gemacht habe, habe ich Angstzustände bekommen, Atemnot, Schweißausbrüche. Der bloße Gedanke, aus dem Haus zu gehen, hat mir den Hals abgeschnürt. Ich bin mehr als einmal ohnmächtig auf der Schwelle zusammengebrochen, trotz Hypnose, trotz progressiver Muskelentspannung, trotz Psychoanalyse. Je mehr ich es versucht habe, je mehr ich es wollte , desto schlimmer ist es geworden. Mein Vater hat den Gegenwert eines Mittelklassewagens für Psychotherapeuten ausgegeben, von denen mir keiner helfen konnte. Und du bist nicht gekommen, nicht ans Telefon gegangen, hast dich verleugnen lassen …« Wut erfüllte sie, eine unbändige, uralte, kraftvolle Wut, die wie Feuer in ihrem Inneren brannte. »Und ich hab es nicht verstanden. Wir hatten uns doch geliebt! Wir waren jung, fast noch Kinder, ja – aber für mich war trotzdem klar, dass wir uns einander versprochen hatten, dass wir unser Leben teilen wollten … Und dann war plötzlich alles aus. Nach diesem schrecklichen Vorfall, nach dem ich dich mehr denn je gebraucht hätte, hast du nicht einmal mehr mit mir geredet! Warum? Ich habe es nicht verstanden, und ich verstehe es heute noch nicht. Und dann, eines Tages, endlich, kommt ein Brief von dir – in dem du mir nur schreibst, dass du Priester wirst. Priester! Ausgerechnet du!« Sie hielt inne, legte die Hände auf den Bauch, spürte, wie ihr Zorn sich in eiserne Entschlossenheit verwandelte. »Warum? Ich gehe nicht, ehe du mir das erklärt hast.«
    In Peters Gesicht loderte blankes Entsetzen. Sie befürchtete schon, er würde einfach aufspringen und blindlings davonstürzen, doch er schlug nur die Augen nieder und flüsterte: »Ich hatte Angst, dir die Wahrheit zu sagen.«
    »Beginnen Sie«, sagte die Lichtgestalt, die, überirdisch und unwirklich, vor ihm stand. Hauchdünne, wehende, in hellem Weiß leuchtende Haare umflorten ein fast schon unmenschlich hageres Gesicht, das man wahrhaftig für das eines Engels halten konnte.
    Ingo fühlte seinen Mund trocken werden. Jetzt war er gefordert. Jetzt galt es.
    »Mein Name«, sagte er laut und mit so fester Stimme, wie es ihm möglich war, »ist Ingo Praise, und ich stehe in diesem Augenblick vor dem mittlerweile legendären Racheengel.« Hoffentlich nahm das Mikrofon der Kamera mit seiner Richtcharakteristik das überhaupt auf. »Meine erste Frage lautet: Was ist Ihre Botschaft?«
    Sein Gegenüber klang, als habe er Stimmbänder aus Glas. »Ich wache über diese Stadt. Wer seine Hand erhebt gegen einen Unschuldigen, wird von nun an durch meine Hand sterben, noch bevor er seine Tat vollendet hat.«
    Ingos Hirn raste. Er hatte alle Mühe, die Kamera stabil zu halten. Wie viel wog das Teil? Einen Zentner? Wie sollten einem da gute Fragen einfallen?
    »Sie tauchen immer im genau richtigen Augenblick am genau richtigen Ort auf«, fragte Ingo laut weiter. »Wie ist das möglich? Wie machen Sie das? Können Sie Gedanken lesen? Die

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