Todesengel: Roman (German Edition)
Mülleimer warf.
Dann kehrte er zum Telefon zurück und wählte noch eine Nummer.
Es klingelte lange. Ingo wartete.
Endlich hob jemand ab. »Guten Tag.« Eine dunkle, ruhige Stimme. »Kinderhilfswerk Nord-Süd, Simon Schwittol am Apparat.«
39
Silvesterabend, fand Ingo, war ein seltsamer Zeitpunkt, um zu verreisen.
Der Abflugbereich lag so still da, als sei der Lufthansa-Flug nach Belém der einzige, der heute starten würde. Und als habe man selbst den vergessen. Die Läden waren bis auf einen winzigen Kiosk geschlossen. Kein Duty-Free heute, keine Mitbringsel, keine Auswahl aus zweitausend Zeitschriften. Die wenigen Mitreisenden, die am Gate warteten, wirkten alle irgendwie einsam; sie lasen, lenkten sich mit Computerspielen ab, waren schweigsam. Ein trostloses Häuflein Verlorener, und er war einer von ihnen.
Zwei Frauen setzten sich neben ihn, unterhielten sich leise über ein türkisches Mädchen, das Selbstmord begangen hatte. »Man kriegt ja so wenig mit«, klagte die eine. »Man lebt im selben Haus, begegnet sich auf der Treppe, sagt guten Tag, und das war’s. Ich weiß nur, dass sie Gülay hieß. Der Vater ist Ingenieur. Eine moderne Familie, hatte ich immer den Eindruck. Aber wie gesagt, man kriegt ja so wenig mit … Schlaftabletten, angeblich. Und war erst sechzehn. Das muss man sich mal vorstellen.«
»Wer weiß, was da passiert ist«, seufzte die andere, gewichtig nickend.
So etwas mit anzuhören war Ingo gerade zu viel. Er stand auf, vertrat sich die Beine, blieb nach einer Weile vor einem Fernsehschirm stehen, der ohne Ton lief. Einer dieser Jahresrückblicke kam, wie sie zu Silvester üblich waren. Bei diesem ging es um die peinlichsten TV-Momente des Jahres: ausrastende Politiker, unabsichtliche Entblößungen, außer Kontrolle geratene Talkshows und dergleichen.
Rasche Schritte. Ein Mann und eine Frau in Uniform betraten das Gate, nahmen den Abfertigungsschalter in Betrieb. Also hatte man den Flug doch nicht vergessen. Allerdings hantierten die beiden erst mal nur hinter ihrer Theke herum, ordneten Unterlagen, unterhielten sich, telefonierten ein Dutzend Mal. Dann, endlich, begann das Boarding.
Ingo ließ die anderen vor. Der angekündigte Schnee war ausgeblieben, aber es war kalt. Garantiert wartete es sich hier drinnen besser als draußen im Flughafenbus, der sie zur Maschine bringen würde.
Auf Platz 6 der Hitparade, sah er in diesem Moment, war die letzte Sendung der Reihe Anwalt der Jugend gelandet. Ingo verfolgte den Ausschnitt fasziniert; er hatte nur davon gehört, den Vorfall selber aber nie gesehen. Er sah Markus Neci mit wallendem Professorenhaar und selbstgefälligem Grinsen am Bühnenrand stehen, als plötzlich Melanie aus dem Zuschauerraum auftauchte, ihn ansprang wie eine Furie, ihn zu Boden riss und anfing, ihm das Gesicht zu zerkratzen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis man sie von ihm wegzerrte.
Hatte sie es also doch irgendwie mitgekriegt. Und ja, es tat gut, das zu sehen. Das Grinsen, das Ingo in seinen Zügen spürte, würde lange halten.
»Sir?«
Er drehte sich um. Die Frau vom Schalter, ungeduldig, sich zu einem Lächeln zwingend.
»Das Boarding, Sir«, sagte sie. »Sie sind der Letzte.«
»Ah. Entschuldigen Sie.« Ingo nahm seinen Rucksack auf die Schulter und reichte ihr die Bordkarte. Sie wünschte ihm einen guten Flug, gab ihm den Abschnitt mit seiner Sitznummer zurück. Er trat durch die Tür, hinaus, wo der Bus auf ihn wartete.
Die anderen Frauen in Victorias Geburtsvorbereitungskurs hatten alle gesagt, der achte Monat sei der schlimmste. Man stünde dicht vor dem Platzen, komme sich vor wie ein Walfisch und fände keine Schlafhaltung mehr, bei der einem der Bauch nicht im Weg sei.
Sie hatten recht.
Trotzdem war sie glücklich, so glücklich, dass es ihr manchmal Angst machte.
Nein, nicht nur manchmal. Jeden Tag.
Vor der Heirat hatte sie Justus, der sehr besorgt gewesen war, ob sie mit seinem Beruf zurechtkommen würde, erklärt, sie habe keine Angst. Erstens, weil er ein vernünftiger Mann mit einem Job sei, der im Wesentlichen am Schreibtisch stattfand, und zweitens, weil sie so lange allein gelebt habe, dass sie das immer können würde, gesetzt den schlimmsten Fall. Das hatte er ihr schließlich auch geglaubt.
In Wirklichkeit starb sie jeden Tag tausend Tode, bis sie endlich abends seinen Schlüssel unten im Schloss hörte. Aber das würde sie ihm niemals verraten.
Heute war er nur eine halbe Stunde verspätet. Weniger kam selten vor. Sie
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