Todesengel: Roman (German Edition)
Sie gehen jetzt«, beharrte der alte Mann.
Ingo betrachtete Sassbecks grimmiges, entschlossenes Gesicht, nickte schließlich. »Okay«, sagte er leise. »Verstehe. Tut mir leid. Ich wollte das nicht. Ich … Ja. Ich gehe wohl besser.«
Dann ging er, ging wie betäubt, sah niemanden mehr, ging einfach nur davon und merkte nicht einmal, wie er nass und nässer wurde.
Sie dachte, dass er schuld sei an Kevins Tod. Vielleicht glaubte sie, er sei schuld, weil er Kevin hatte warten lassen, anstatt ihn nach Hause zu schicken. Oder weil er das Interview nicht hatte sausen lassen. Vielleicht glaubte sie sogar, er sei schuld, weil er Kevin überhaupt erst für Krav Maga interessiert hatte. Was Unsinn war, denn tatsächlich war das etwas, das Kevin schon viel früher hätte anfangen sollen.
Trotzdem hatte Evelyn recht. Er war schuld – bloß aus einem ganz anderen Grund, einem, von dem sie nichts wissen konnte und den sie nie erfahren würde: Weil er, Ingo Praise, den Racheengel absichtlich hatte Vorsprung gewinnen lassen. Wäre er ihm auf den Fersen geblieben, hätte er verhindern können, was geschehen war.
Mit dieser Schuld würde er von nun an leben müssen.
Am Nachmittag räumte er sein Büro im City-TV-Gebäude aus. Viel war es nicht, was er mitnehmen musste – ein paar Papiere, seine externe Festplatte, Krimskrams. Passte alles in seine gute, alte Ledertasche.
Während er seine Dateien vom Rechner löschte, hantierte schon jemand in einem blauen Overall an der Tür herum, brachte ein Namensschild an. Dr. Rüdiger Sanftleben, Programmplanung las Ingo, als er den Raum zum letzten Mal verließ.
Niemand verabschiedete ihn, niemand grüßte ihn. Rado ließ sich verleugnen oder war tatsächlich nicht im Haus. Als Ingo vor dem Aufzug wartete, liefen auf dem gigantischen Fernsehschirm dort gerade Ausschnitte aus einer Rede des amtierenden Oberbürgermeisters: Die Stadt werde, verkündete er, im Hinblick auf die Prävention jugendlicher Gewaltkriminalität kurzfristig einhundert neue Sozialarbeiter und Soziologen einstellen, eine Zahl, die er im Falle seiner Wiederwahl massiv aufzustocken versprach. Außerdem werde er sich, fügte er hinzu, in Berlin entschieden dafür einsetzen, die Strafrahmen des Jugendstrafgesetzes drastisch zu senken; Hilfe zur Sozialisierung müsse Vorrang vor Strafe haben. »Jugendliche«, erklärte er unter Beifall, »haben in Gefängnissen nichts verloren.«
Ingo verfolgte die Rede mit ungläubigem Staunen. Der Aufzug kam, doch er ließ ihn weiterfahren, weil er nicht glauben mochte, dass das ernst gemeint war, dass der OB das wirklich gesagt hatte. Das war Satire, oder? Das musste einfach Satire sein!
So kam es, dass er den Spot zu sehen bekam, der für Anwalt der Jugend warb, den Nachfolger seiner Sendung. Moderator würde »der bekannte Soziologe, Professor Doktor Markus Neci« sein. Mit hochdynamischem Schritt, wehendem Haar und gewinnendem Lächeln kam er auf die Kamera zumarschiert: ein Mann, der wusste, was er wollte, und unbeirrbar seinen Weg ging.
Ingo nahm die Treppe.
Auf dem Weg nach unten holte er sein Handy aus der Umhängetasche. Er hatte es gründlich gereinigt, aber es kam ihm vor, als rieche es immer noch nach Kevins Blut. Er suchte nach dem Video von Neci und der Fröse, fand es diesmal, schaute es sich noch einmal an.
Sah so die Emanzipation aus? Dass sich jetzt die Männer hochschliefen? Er konnte nur den Kopf schütteln, sowohl über das, was er auf dem winzigen Bildschirm sah, als auch darüber, wie mächtig ihn das noch vor Kurzem aufgeregt hatte.
Dabei ging es ihn nicht das Geringste an, sagte er sich und drückte auf Löschen .
Zu Hause empfing ihn eine Wohnung, die ihm kalt und abweisend vorkam, ungemütlich und düster. Wie hatte er es nur so lange hier ausgehalten? Es war ihm ein Rätsel.
Nun, das würde sich jetzt sowieso alles ändern.
Er stellte seine Tasche ab, trat ans Telefon, wählte eine Nummer.
»Wie gesagt«, meinte David Mann, nachdem Ingo ihm sein Anliegen vorgetragen hatte. »Kommen Sie, wann immer Sie wollen.«
»Ginge es heute noch?«
»Haben Sie es eilig?«
»Ja«, sagte Ingo.
Danach schlurfte er in die Küche, zog die Schublade auf und holte die alte Weltkarte mit den roten Punkten und dem schwarzen Kreuz heraus. Er betrachtete das vergilbte Stück Papier, während es in ihm arbeitete, ohne dass er hätte sagen können, was genau ihm durch den Kopf ging. Am Ende zerriss er die Karte, riss sie in lauter kleine Fetzen, die er in den
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