Todesengel: Roman (German Edition)
als sei seine Hand ein Schraubstock.
»Sie könnten mir ein bisschen Geld geben«, schlug Lucas vor. »Ich hab Hunger.«
»Wenn du Hunger hast«, meinte der Mann, der mit einem merkwürdigen Akzent sprach, »dann wäre es besser, ich gebe dir was zu essen, oder?« Er legte das Notizbuch beiseite, öffnete mit der freien Hand seine Tasche und holte zwei Sandwiches heraus, bei deren Anblick Lucas das Wasser im Mund zusammenlief: dick belegt, frisch, in Folie eingewickelt.
»Wo sind deine Eltern?«, wollte der Mann wissen, die Sandwiches in der Hand.
»Ich hab keine«, erwiderte Lucas trotzig.
»Und wo wohnst du dann?«
»Nirgends.«
Der Mann sah ihn forschend an. »Würdest du denn gern irgendwo wohnen? Zusammen mit anderen Kindern, die keine Eltern haben? Wo du immer was zu essen kriegen würdest?«
Lucas musterte ihn skeptisch. Bei solchen Angeboten musste man vorsichtig sein, er hatte da schon allerhand schlimme Geschichten gehört.
Andererseits waren da die Sandwiches. Die wollte er sich nicht durch die Lappen gehen lassen, deswegen sagte er: »Vielleicht.«
Der Mann ließ ihn los, gab ihm die beiden Sandwiches. Lucas riss die Folie von einem davon ab, begann hastig zu essen.
»Du müsstest allerdings in die Schule gehen«, sagte der Mann. »Und erst mal baden, übrigens.«
»Und was noch?«, fragte Lucas. Komisch, irgendwie hatte der Mann etwas an sich, dass er ihm glaubte.
»Dich an Regeln halten. Nichts stehlen. Keine Drogen. So was in der Art.«
»Und was noch? Müsste ich irgendwelche Sexsachen machen?«
»Nein«, sagte der Mann. »Nur die Regeln.«
Lucas überlegte. »Das will ich mir erst ansehen.«
»Okay.« Der Mann suchte wieder in seiner Tasche herum. »Hast du Schulden bei jemandem? Don Pedro? Felipe? Maria Batista? So jemand?«
Lucas hörte auf zu kauen. »Das darf ich nicht sagen.«
»Aber du hast Schulden. Wie viel?«
»Zweihundert Real .«
»Na, das geht ja.« Der Mann reichte Lucas ein paar Geldscheine. »Hier. Geh deine Schulden zahlen und komm wieder her. Dann zeig ich dir das Haus.«
Lucas sah fassungslos die Scheine in seiner Hand an, dann wieder den Mann.
»Wieso tun Sie das?«, fragte er.
»Was?«, fragte der Mann.
»Wieso sind Sie so … freundlich zu mir?«
Der Mann mit den traurigen Augen schaute ihn an. Im ersten Moment sah es aus, als wolle er etwas sagen, das er in solchen Fällen immer sagte, eine Antwort, die nichts mit ihm, Lucas, zu tun hatte. Doch er sprach es nicht aus, sondern betrachtete ihn nur, als müsse er über diese Frage wirklich gründlich nachdenken.
»Du erinnerst mich an jemanden«, sagte der Mann mit den traurigen Augen schließlich, und an der Art, wie er es sagte, erkannte Lucas, dass es die Wahrheit war und dass sie damit zu tun hatte, dass man ihn so nannte, wie man ihn nannte.
– ENDE –
INTERVIEW mit Prof. Dr. Christian Pfeiffer
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Christian Pfeiffer ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich Jugendkriminalität und der Auswirkungen des intensiven Medienkonsums auf Schulleistungen und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Von 2000 bis 2003 war er Justizminister in Niedersachsen.
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Der Todesengel, der dem Namen des Romans von Andreas Eschbach den Titel gibt, erschießt Jugendliche, die versuchen, eine Gewalttat an unschuldigen Opfern zu begehen. Im Rahmen einer Berichterstattung durch den Protagonisten des Romans fällt folgende These: Unser Rechtssystem schützt Täter und nicht Opfer. Sehen Sie das auch so?
Im Hinblick auf die Opfer war das vor zehn bis fünfzehn Jahren richtig, hat sich aber seitdem schrittweise immer weiter gebessert. Heute trifft das nicht mehr zu. In Deutschland hat man das Opfer regelrecht entdeckt und schützt es heute durch eine Fülle von Gesetzen, die dem Opfer vor Gericht mehr Chancen geben. Persönlich massiv betroffene Opfer können beantragen, dass sie die Vorfälle, die man nicht vor einer großen Zuschauermenge erzählen möchte, unter Ausschluss der Öffentlichkeit schildert. Kinder werden wesentlich effektiver davor geschützt, immer und immer wieder dieselbe Sache über den sexuellen Missbrauch erzählen zu müssen. Das Kind wird einmal vor der Kamera befragt und das Videomaterial wird dann für die Hauptverhandlung benutzt. Wir haben also in der Opferhilfe von Seiten des Staates mehr getan. Diese These, dass unser Rechtssystem Täter schützt und nicht Opfer, war mal populär und
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