Todesengel: Roman (German Edition)
vorgestellt hatte.
Sie traten auf ihn ein, schrien ihn an, bespuckten ihn. Er schmeckte sein eigenes Blut, spürte seine Rippen unter ihren Tritten brechen. Sie waren außer sich, übten keinerlei Zurückhaltung. Dass er alt und gebrechlich war, schienen sie überhaupt nicht wahrzunehmen, geschweige denn, dass es sie gebremst hätte. Erich Sassbeck lag am Boden, sah ihre Fußtritte kommen und ihre wutverzerrten Gesichter und begriff nicht, wie so etwas möglich war. Sie tobten eine Wut an ihm aus, deren Ursache er unmöglich sein konnte, und sie taten es ohne jedes Mitgefühl und ohne einen Rest von Menschlichkeit. Er hatte aufgehört, um Hilfe zu schreien, und er winselte auch nicht mehr um Gnade. Er wartete nur noch darauf, dass es endlich vorbei war.
Doch da, genau in dem Moment, in dem er mit seinem Leben abgeschlossen hatte, geschah etwas. Etwas, mit dem Erich Sassbeck noch weniger gerechnet hätte als mit einem solchen Ende.
Er sah einen Engel.
Es war ein Wunder. Es war eine Erscheinung. Es konnte unmöglich wahr sein. Ein strahlend weißer Engel war lautlos hinter den beiden tobenden Jugendlichen erschienen, die ihn nicht bemerkten, sondern weiter schrien und zutraten, bloß dass ihre Tritte und Schreie auf einmal wie im Nebel zu verschwinden schienen.
Erich Sassbeck war zutiefst erschüttert von diesem Anblick. Er war im Geist des Marxismus-Leninismus erzogen worden, hatte Religion stets als Opium fürs Volk betrachtet und erwartet, mit dem Tod einfach zu verlöschen. Niemals hätte er geglaubt, am Ende seines Lebens ausgerechnet einem wahrhaftigen Engel zu begegnen.
Aber der Engel war da. Sassbeck sah ihn so deutlich vor sich wie die Pfeiler, die die Decke der U-Bahn-Station stützten, so deutlich wie die Anzeige, die gleichmütig verkündete: Noch 3 Minuten . Der Engel sah aus wie ein schlanker, schöner, ernster junger Mann. Sein Blick war kühl und, seltsamerweise, gnadenlos. Er trug ein weites, von innen heraus in strahlendem Weiß leuchtendes Gewand, und er hatte lange, weiße Haare, die ein Luftzug wehen ließ und die ebenfalls leuchteten wie illuminiert.
Erich Sassbeck spürte die Tritte seiner Peiniger kaum noch. Er hatte nur mehr Augen für die Erscheinung. War der Engel gekommen, um ihn abzuholen? Würde er sich nun zu ihm hinabbeugen, um seine Seele zu bergen und mitzunehmen in eine bessere Welt?
Der Engel tat nichts dergleichen. Stattdessen hob er die Arme, in jeder Hand eine Pistole, und schoss die beiden jugendlichen Angreifer in den Kopf.
2
Ingo Praise ließ sich gegen die knirschende Lehne seines Schreibtischstuhls sinken und starrte den Text auf dem Monitor an wie einen Feind.
Er machte sich etwas vor, und er wusste es.
Heute Vormittag finden in den drei Sälen des Amtsgerichts drei Verhandlungen statt , hatte er geschrieben. In Saal 1 steht ein Kunstfälscher vor Gericht, der zwölf Jahre lang Gemälde von wenig bekannten Künstlern so überzeugend geschaffen hat, dass nicht einmal Experten den Schwindel durchschauten: Er wird zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. In Saal 2 wird gegen einen Importeur verhandelt, der mithilfe von Strohmännern fünf Millionen Euro Umsatzsteuer hinterzogen hat: Er wird zu vier Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilt, und für eine Steuerhinterziehung in dieser Höhe ist ein Aussetzen der Strafe auf Bewährung ausgeschlossen.
Ich aber sitze unter den Zuschauern im Saal 3. Es ist der letzte Verhandlungstag in einem Fall schwerer Körperverletzung, der sich vergangenen März zugetragen hat. Damals hat ein 19-Jähriger zusammen mit einem jüngeren Freund einen 38-jährigen Elektroinstallateur um einen Euro angebettelt, der ihnen noch für Zigaretten fehlte. Als der Mann sich weigerte, ihnen Geld zu geben, schlugen sie unvermittelt auf ihn ein. Im Lauf der Auseinandersetzung stürzte der Elektroinstallateur unglücklich gegen die Kante einer Schaufenstervitrine und erlitt dabei so schwere Schädelverletzungen, dass er heute geh- und sprechbehindert ist, vermutlich für immer. Seinen Beruf wird er nie wieder ausüben können.
Diese beiden Angeklagten erhalten dafür, dass sie das Leben eines Menschen zerstört haben, zwei Jahre Freiheitsstrafe.
Auf Bewährung.
Er hörte schon förmlich, wie Rado an dieser Stelle seufzen und sagen würde: »Ingo – begreif es doch endlich! Diese Art von Artikel passt nicht in die politische Großwetterlage.«
Im Grunde war es zwecklos, weiterzuschreiben. Er konnte es nur nicht lassen. Würde es nie
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