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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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können.
    Ingo griff nach der Flasche, goss sich Wein nach, den billigen roten Fusel, den sein Budget hergab. Den hatte er nach Tagen wie diesem nötig.
    Es hätte noch viel mehr über diesen Prozess zu schreiben gegeben. Über das Gerangel, ob die Öffentlichkeit vom Verfahren ausgeschlossen werden müsse, weil einer der beiden Täter zum Zeitpunkt der Tat erst 17 Jahre alt gewesen war. Darüber, wie die Ehefrau des Opfers nach der Urteilsverkündung zusammengebrochen war. Darüber, dass ein Zeuge ausgesagt hatte, die beiden hätten noch auf den Mann eingetreten, als dieser schon bewusstlos am Boden gelegen habe, und wie der Richter ihn mit dem Argument abgewürgt hatte, aus dem Gutachten des Sachverständigen gehe bereits hervor, dass es wesentlich der unbeabsichtigte Sturz des Mannes gegen die Vitrine gewesen sei, der zu dessen Behinderung geführt habe. Darüber, wie das Opfer das Gericht im Rollstuhl durch den Hinterausgang verlassen hatte, während die beiden Täter, zwei große, muskelbepackte Gestalten mit ausrasierten Nacken, vor dem Haupteingang von einer Schar Beifall klatschender Freunde erwartet worden waren.
    Wie sie einander High Five gegeben hatten, ehe sie in das Auto gestiegen waren, das bereitstand, um sie abzuholen. Davon war Ingo sogar ein Foto geglückt.
    Aber auch das konnte er vergessen. »Wir haben eine gesellschaftliche Aufgabe«, pflegte Radoslav Törlich, Redakteur des Abendblatts und einer seiner wenigen verbliebenen Kontakte in die Medienwelt, gern salbungsvoll zu erklären. »Ein solches Bild abzudrucken würde nur ungute Stimmungen schüren. Dafür dürfen wir uns nicht hergeben.«
    In Wirklichkeit war Rado so ungefähr der Letzte, der auf irgendwelche gesellschaftlichen Aufgaben Rücksicht nahm. Alles, was ihn interessierte, waren Quoten und Verkaufszahlen. Er fragte nicht nach dem Wahrheitsgehalt einer Nachricht, sondern nur nach ihrem Medienwert.
    Und was das Thema anbelangte, dem Ingo mehr Zeit und Energie widmete als jedem anderen, vertrat Rado einen glasklaren Standpunkt: »Opfer interessieren niemanden. Opfer sind peinlich. Niemand will etwas über die Schicksale von Opfern lesen, weil er sich sonst sagen müsste, dass es ja auch ihn treffen könnte. Und das will niemand wissen.«
    Das Dumme war, dass Ingo ihm da nicht einmal widersprechen konnte.
    Er kippte das Glas hinab, hatte das Gefühl zu spüren, wie der Wein sich mit seinem Blut vermischte und es am Sieden hinderte. Verdammt noch mal!
    Ein Blick auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Außerdem wurde er in zwei Jahren dreißig, ohne dass sich so etwas wie eine Perspektive in seinem Leben aufgetan hätte.
    Die Vorstellung, eines Tages einen ordentlichen Job zu haben, mit Anstellungsvertrag, Urlaubsanspruch und Krankengeld, hatte er längst aufgegeben. Wie viele fest angestellte Journalisten gab es überhaupt noch? Ingo las die Statistiken nicht mehr, wusste nur, dass es immer weniger wurden. Alle Redaktionen wurden ausgedünnt, immer mehr Seiten einfach mit umformulierten dpa-Meldungen gefüllt. Der Journalismus starb aus, zumindest die Art, die er machen wollte. Die Art Journalismus, die Missstände aufdeckte. Die Art, der es um die Wahrheit ging, nicht darum, was »die Leute« angeblich lesen wollten, was »angesagt« war oder welche Sau die Konkurrenz gerade durchs Dorf trieb.
    Ingo griff nach der Tastatur, drückte die Tastenkombination, die seine Ideen-Sammel-Datei aufrief, und tippte: Ich bin ein Journalismosaurus . Konnte man vielleicht mal brauchen. Auf alle Fälle fühlte er sich im Moment wie einer.
    Draußen war ein Martinshorn zu hören. Ingo sah zum Fenster. Blaulicht zuckte über die Fassaden der gegenüberliegenden Straßenseite. Bestimmt die Polizei. Er musste wieder an den Tag heute im Amtsgericht denken und wie frustriert die als Zeugen geladenen Polizisten gewirkt hatten.
    Dann horchte er auf. Das Martinshorn war nicht, wie sonst, allmählich in der Ferne entschwunden, sondern ausgeschaltet worden. Und das Blaulicht zuckte noch immer.
    Ingo ging zum Fenster, öffnete es und schaute hinab. Tatsächlich: ein Streifenwagen, der vor den Treppenabgängen zur U-Bahn-Station angehalten hatte. In der Ferne hörte er ein weiteres Martinshorn, aus Richtung des Ringhospitals. Was vermutlich hieß, dass es sich um einen Krankenwagen handelte.
    Er fröstelte. Hier oben im fünften Stock blies ein scharfer Wind. Allmählich wurde es amtlich mit dem Herbst. Wieder einmal war ein Sommer verstrichen, ohne dass er Zeit

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