Todesengel: Roman (German Edition)
herumgehackt haben, weil ich der Kleinste und Schwächste war. Die anderen Kinder waren eher noch grausamer als mein Stiefvater.«
»Wie waren Ihre schulischen Leistungen?«
»Schlecht. Ich konnte nichts wirklich gut. Vielleicht war ich in meiner Entwicklung auch zurückgeblieben, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall habe ich nur katastrophale Noten geschrieben. Was mir zu Hause noch mehr Schläge eingebracht hat. Ich bin auf jeden Fall zweimal sitzengeblieben.«
»Und dann?«
»Es wurde besser, als ich einen Wachstumsschub hatte. Auf einmal war ich groß und stark genug, dass sich niemand mehr mit mir angelegt hat, nicht einmal mein Stiefvater. Aber Freunde zu finden war trotzdem schwierig. Ich habe versucht, in eine … heute würde man sagen, eine Gang hineinzukommen, die es damals an unserer Schule gab. Coole Typen, die Autos geknackt, mit Drogen herumgemacht haben und nie ohne Schnappmesser unterwegs waren.«
»Und standen mit fünfzehn vor einem Richter.«
»Ja. Das erste und letzte Mal.«
»Worum ging es?«
»Ich sollte als Zeuge aussagen.« Simon Schwittol nickte ernst. »Der Wendepunkt meines Lebens.«
Ingo sah, dass Neci die Stirn runzelte. Offenbar merkte er schon, dass das hier nicht auf das hinauslaufen würde, was er erwartet hatte.
Ingo gab dem Tontechniker den vereinbarten Wink. Der hob den Daumen. Gut.
»Herr Schwittol, Sie waren vor Gericht. Was war geschehen?«
Der klobige Mann nickte bedächtig. Es sah aus, als wackle ein Felsbrocken. »Die von der Gang hatten einen Einbruch begangen, bei einer alten Frau, von der es hieß, sie sei reich. Ich war nicht dabei, aber ich hatte gewusst, was sie vorhatten.« Er knetete seine Hände. »Sie hatten mir zu verstehen gegeben, dass sie mich aufnehmen würden, wenn ich das Richtige sage. Sie entlaste. Das wollte ich eigentlich auch, aber dann habe ich diese kleine, alte Frau gesehen, all die Verletzungen, die sie ihr zugefügt hatten, das blaue Auge, die Abschürfungen am Kopf, den Arm in Gips … Da wurde mir klar, dass ich auf dem falschen Weg bin.«
»Und dann?«
»Ich habe alles gesagt, was ich wusste, und die Gang damit ins Gefängnis gebracht. Nicht, weil sie die Frau verprügelt hatten, sondern wegen des Diebstahls und des angerichteten Schadens, und auch nicht für lange. Ich wusste, dass sie sich rächen würden, wenn sie wieder rauskamen.«
»Was haben Sie dagegen gemacht?«
»Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wusste nur, dass ich nicht so werden wollte wie die. Und auch nicht wie mein Stiefvater. Ich wollte etwas anderes … ein schönes Leben, verstehen Sie? Dann habe ich im Fernsehen einen Bericht über Straßenkinder in Brasilien gesehen und über Hilfsorganisationen, die da was machen. Das hat mich beeindruckt. Ich hab mich erkundigt, eine Weile nachgedacht und bin schließlich einfach abgehauen, um beim Kinderhilfswerk Nord-Süd anzufangen, als Mädchen für alles, wie man so sagt.«
»Und dort sind Sie bis heute.«
»Ja.«
»Sie leiten es heute sogar.«
Schwittol zuckte verlegen mit den Schultern. »Ach Gott … Ich bin halt jetzt wieder in Deutschland, um Spenden zu sammeln, Hilfslieferungen und die Überseereisen von freiwilligen Helfern zu organisieren und solche Dinge. Zusammen mit einer Halbtagskraft, der Frau Schneider, die mehr von Computern versteht als ich.« Er grinste schief. »Also, im Grunde bin ich immer noch Mädchen für alles.«
»Aber Sie waren lange Zeit selber vor Ort.«
»Über dreißig Jahre. In Rio de Janeiro, São Paulo, Belém und Curitiba. Dort sind unsere größten Kinderhäuser.«
»Wie muss man sich das vorstellen?«
»Wir nehmen elternlose Kinder auf und versuchen, ihnen ein Zuhause zu geben. Schulbildung, persönliche Hygiene, gesunde Ernährung, all solche Dinge.« Er wedelte mit der Hand. »Man darf sich das nicht als Waisenhaus im klassischen Sinn denken. Es ist eher eine Art große Wohngemeinschaft. Nicht immer einfach, aber wir haben trotzdem viel Spaß. Wir haben Fußballmannschaften – Fußball ist wichtig in Brasilien –, wir haben eine Theatergruppe, wir feiern Feste …«
»Sie achten streng auf die Einhaltung von Regeln, habe ich gelesen.«
»Ja. Jedes Kind bekommt erklärt, dass es nicht stehlen darf, keine Drogen nehmen darf, dass es keine Sachen mutwillig kaputt machen darf, dass Streitigkeiten nicht durch Gewalt gelöst werden. Insgesamt sind es ein Dutzend Regeln. Einfache Regeln, die jeder verstehen kann.«
»Und wer dagegen verstößt?«
»Wer einmal
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