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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Misshandlungen, Missbrauch, Verstoßung, Ablehnung durch ein Elternteil und dergleichen. Brutales Verhalten der Eltern untereinander kann als Vorbild dienen, Probleme mit Gewalt zu lösen. Ehekrisen, Trennungen, emotionale oder tatsächliche Abwesenheit eines Elternteils, Inkonsequenz oder Unterdrückung in der Erziehung – die Liste der möglichen Stressoren ist lang. Kommen dann Pubertätsprobleme, Identitäts- oder Sinnkrisen hinzu, kann das einen jungen Menschen vollends aus der Bahn werfen.«
    »Ein prügelnder Vater erzeugt also einen prügelnden Sohn?«
    »Genau so ist es.«
    »Aber warum? Warum wirkt das Beispiel des Vaters nicht anders? Zum Beispiel abschreckend?«
    Neci lächelte maliziös. »Ich will hier keine Schleichwerbung machen, aber in meinem demnächst erscheinenden neuen Buch Ursachen der Jugendgewalt leite ich das sehr detailliert her. Man kann es durch zwei Theorien erklären, die einander ergänzen. Das eine ist die Theorie der mangelnden Anerkennung, die andere die der Desintegration. Beide stammen von anerkannten Soziologen beziehungsweise Sozialphilosophen.«
    »Wir haben eine halbe Stunde Zeit«, sagte Ingo. »Als erfahrener Hochschullehrer können Sie doch bestimmt in groben Zügen umreißen, worum es in diesen Theorien geht.«
    »Ich will es versuchen.« Neci streckte die Brust heraus, selbstgefällig, wie Ingo fand. »Die Theorie der mangelnden Anerkennung besagt, dass wir Anerkennung in drei Formen brauchen: Erstens in Form von Liebe oder emotionaler Zuwendung, zweitens in Form normativer und kognitiver Anerkennung, drittens in Form von Solidarität oder sozialer Anerkennung. Wird uns eine dieser Anerkennungsformen nicht zuteil, gerät unser Leben in eine Krise, die wiederum in Kämpfe führen kann, mithin in Gewalt in irgendeiner Form, sei es körperlicher oder seelischer Art. Gewalt ist in diesem Kontext nichts anderes als ein Hilferuf, ein verzweifelter Versuch, doch noch Anerkennung zu bekommen. Indem man jemandem Gewalt zufügt, zwingt man ihn dazu, einem wenigstens Respekt zu zollen.«
    »Verstehe«, sagte Ingo verblüfft. Das war genau der Text, den er in Necis Manuskript gelesen hatte. Der Typ konnte sein Buch auswendig hersagen!
    »Nun, dass Sie das wirklich verstehen , wage ich zu bezweifeln, dazu habe ich es, der zeitlich beengten Situation geschuldet, zu oberflächlich erklärt«, wies ihn Neci hochmütig zurecht. »Bestenfalls kann es eine Vorstellung vermitteln, von welchen Faktoren wir hier reden.«
    Ingo schluckte seinen Ärger über die Zurechtweisung hinunter. »Sie erwähnten noch eine zweite Theorie.«
    »Die Theorie der Desintegration, richtig. Darunter versteht man die nicht eingelösten Leistungen gesellschaftlicher Institutionen und Gemeinschaften, die zur Sicherung der materiellen Grundlagen, der sozialen Anerkennung und der persönlichen Verwirklichung dienen. Je mehr und je ausgeprägter die Desintegrationserfahrungen, desto stärker die damit verbundenen Ängste und Konflikte und desto geringer die Fähigkeit, diese Konflikte zu regeln.«
    »Das ist jetzt, glaube ich, wirklich schwer zu verstehen«, sagte Ingo tapfer. »Können Sie das vielleicht an einem Beispiel verdeutlichen?«
    »Ich will es versuchen.« Neci verzog das Gesicht, damit auch jeder sah, welche Überwindung es ihn kostete, sich auf Ingos geistiges Niveau herabzulassen. »Einer der dominierenden Trends in modernen Gesellschaften ist die zunehmende Individualisierung – sagt Ihnen das was?«
    »Ja«, meinte Ingo säuerlich. Die gönnerhafte Art seines Gegenübers war schwer zu ertragen.
    »Diese führt einerseits zu mehr Freiheit für den Einzelnen, gleichzeitig sieht dieser sich aber auch vermehrtem Druck ausgesetzt, beispielsweise dem, sich selber auf dem Arbeitsmarkt einen befriedigenden Platz zu erobern. Je geringer die Wahrscheinlichkeit, dass dies gelingt, desto höher die Frustration bei den Verlierern dieses Wettbewerbs. Das heißt, sie sind Opfer eines gesellschaftlichen Prozesses, und von da aus ist der Weg zum aggressiven Täter nicht mehr weit.«
    Ingo nickte und versuchte, so zu tun, als sei ihm das alles neu und als beeindrucke es ihn enorm. Dabei hatte er das meiste davon schon in Necis Manuskript gelesen (womit hatte er wohl die übrigen vierhundert Seiten gefüllt?), und es beeindruckte ihn kein bisschen.
    »Ich versuche einmal, das zusammenzufassen«, sagte er. »Gewalttätige Eltern sind ein prägender Faktor?«
    »Richtig.«
    »Misshandlungen als

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