Todesengel: Roman (German Edition)
dagegen verstößt, wird vor der ganzen Gruppe verwarnt. Wer ein zweites Mal dagegen verstößt, bekommt die Chance, es wiedergutzumachen. Wer ein drittes Mal dagegen verstößt, muss gehen.«
»Da sind Sie unerbittlich?«
Schwittol sah ihn traurig an. »Anders geht es nicht. Wenn Sie Regeln aufstellen, müssen Sie ihre Einhaltung erzwingen, sonst können Sie es lassen. Und ohne Regeln kann man nicht zusammenleben.«
»Wie viele Kinder haben Sie verstoßen?«
»In dreißig Jahren vier. Es hat uns jedes Mal das Herz gebrochen.«
Jemand klatschte, dann fielen die übrigen Zuschauer ein. Als der Applaus wieder abebbte, sagte Ingo: »Aber nun habe ich eine Frage, Herr Schwittol: Warum sind Sie kein Gewalttäter geworden?« Er zählte die Punkte an den Fingern ab. »Sie hatten einen Stiefvater, der Sie verprügelt hat. Sie sind von Ihrem leiblichen Vater verlassen und von Ihrer Mutter vernachlässigt und abgelehnt worden. Sie waren schlecht in der Schule, also nicht wettbewerbsfähig. Sie hatten keine Freunde, haben also auch anderweitig keine Zuwendung erfahren. Laut Professor Neci hätten Sie gar keine andere Wahl gehabt. Sie hätten zwangsläufig zuschlagen müssen!«
»Man hat immer eine Wahl. Sie ist nur nicht immer einfach. Manchmal ist der richtige Weg schwieriger zu gehen.«
»Sie widersprechen Professor Neci? Bedenken Sie, dass er ein Fachmann ist, einer der bedeutendsten Experten auf dem Gebiet.«
Schwittol hob unbeeindruckt die Schultern. »Ich habe die Versuchung gespürt, gewalttätig zu werden. Das schon. Aber gleichzeitig wusste ich, wenn ich ihr nachgebe, habe ich verloren. Erst dann habe ich verloren. Und ich hab beschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen.«
»Sie verkörpern sozusagen den Gegenbeweis.«
»Ich habe keine besonderen Talente. Ich denke, wenn ich es konnte, können es andere auch.«
»Danke, Herr Schwittol. Vielen, vielen Dank für Ihre Geschichte.« Ingo wandte sich der Kamera zu. »Liebe Zuschauer, wenn Sie mehr über das Kinderhilfswerk Nord-Süd erfahren wollen, dann besuchen Sie die eingeblendete Website. Im Anschluss an diese Sendung werden wir außerdem Kontaktanschrift und Spendenkonto anzeigen. Alle Informationen finden Sie natürlich auch auf unserer Homepage.«
Er drehte sich zur Bühne um, auf der Neci einsam in seinem Sessel saß wie ein dicker Frosch. »Professor Neci, was sagen Sie dazu? Ihre Theorien sind wertlos. Mehr noch, sie sind absolut unoriginell. Es sind Theorien, wie sie in tausend Mutationen kursieren und unsere Kultur durchdringen wie Schimmelpilz. Allen ist eines gemeinsam: Sie leugnen die Verantwortung des Einzelnen für sich selbst.«
Zaghafter Applaus aus dem Publikum. Neci erwiderte etwas, aber man hörte ihn nicht, weil sein Mikrofon abgeschaltet blieb.
»Das ist es, was diese Theorien so attraktiv macht: dass man die Schuld auf jemand anderen schieben kann. Die Gesellschaft ist schuld. Der Kapitalismus. Die Eltern. Die Ausländer. Die Medien. Irgendjemand, Hauptsache, nicht man selbst. Ihre Theorien, Professor Neci, dichten Täter zu Opfern um. Ihre Theorien behaupten, dass Täter nichts dafür können, dass sie gewalttätig werden. Und das, Professor Neci«, sagte Ingo und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn, »ist eine Lüge .«
Es war unerwartet befriedigend, das auszusprechen, es hier zu sagen, vor den Zuschauern im Studio, vor Kameras, die seine Worte in die Welt hinaustrugen: wie eine Befreiung von einer Last, die Ingo zeit seines Lebens mit sich herumgetragen hatte.
Er hatte das Gefühl zu glühen, innerlich zu brennen. Doch es war ein gutes Gefühl. Es fühlte sich an wie jenes nächtliche Fieber, das den Beginn der Heilung markiert.
»Es ist eine Lüge«, wiederholte Ingo. »Es gibt niemanden, der nicht weiß, was Gewalt ist und wann er Gewalt anwendet. Wenn Sie jemanden schlagen, dann wissen Sie, dass Sie Gewalt anwenden. Wenn Sie jemanden in den Bauch treten, dann wissen Sie, dass Sie Gewalt anwenden. Und wenn jemand gewalttätig handelt, gibt es nur eins, was man tun kann: ihn zu stoppen. Ihm unmissverständlich verstehen zu geben, dass sein Verhalten nicht akzeptabel ist.«
Beifall. Lauter Beifall. Sie hörten gar nicht mehr auf zu klatschen. Es war wie ein Rausch.
»Aber tun wir das?«, fuhr Ingo fort, als es wieder möglich war. »Tut unsere Gesellschaft das? Nein, das tun wir nicht. Im Gegenteil – wir belohnen Gewalttäter noch. Wir belohnen sie mit Aufmerksamkeit, Verständnis und Mitgefühl. Ihr Armen, sagen wir
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