Todesengel: Roman (German Edition)
ihnen, ihr könnt ja nichts dafür. Wir, die Gesellschaft, sind schuld; lasst es uns wiedergutmachen. Verzeiht uns, dass ihr gewalttätig werden musstet. Das ist es, was wir ihnen zu verstehen geben.«
Noch mehr Beifall. Einige standen auf, klatschten im Stehen. Die Kameras fuhren von Ingo weg, schwenkten über das Publikum. Der Aufnahmeleiter bedeutete Ingo zu warten.
Endlich, nach einer Ewigkeit, kam wieder eine Kamera auf Ingo zu, kam das Zeichen, weiterzusprechen.
»Gewaltkarrieren entstehen, weil wir sie regelrecht züchten«, erklärte Ingo. »Wir züchten sie durch falsch angewandte Milde. Wir züchten sie, weil wir zu feige sind. Wir reden uns ein, es reiche, Werte zu proklamieren. Aber das reicht nicht – man muss seine Werte auch verteidigen. Wir reden uns ein, wenn wir zu denen, die unsere Werte mit Füßen treten, nur nett genug sind, werden sie auch nett zu uns sein. Doch das funktioniert nicht. Wir sehen es jeden Tag in den Nachrichten. Ach was – wir brauchen einfach nur quer durch diese Stadt zu gehen, um zu sehen, dass Ihre Theorien nicht funktionieren, Professor Neci!«
Der Aufnahmeleiter deutete auf die Bühnenuhr – noch zweiundfünfzig Sekunden –, bedeutete ihm, Schluss zu machen.
Umso besser. Damit musste er Neci nicht mehr zu Wort kommen lassen.
»Wir hören in den Medien immer nur von den Tätern«, sagte Ingo hastig. »Wir hören immer nur davon, was sie dazu treibt, ihre Untaten zu begehen. Angeblich. Wir hören, dass es an ihrer schlechten Kindheit lag, an fehlender Chancengleichheit, an Überforderung, Gewalt im Elternhaus, unglücklichen Umständen. Wir hören so gut wie nie von ihren Opfern. Wie es denen ergeht. Wie sie mit den Folgen der Tat leben. Und vor allem – vor allem , liebe Zuschauer – vor allem hören wir nie von Menschen, die die gleichen Schicksale hinter sich haben, die gleichen verkorksten Kindheiten, prügelnden Väter und lieblosen Mütter, und die trotzdem nicht zu Gewalt gegriffen haben. Die keine Verbrecher geworden sind. Was Sie in den Medien nie hören, ist, dass das, was jemand tut, eine Frage seines Charakters ist. Und deshalb will ich es endlich sagen.«
Dann kam nur noch Applaus, bis die roten Signallampen an den Kameras erloschen.
»Das war infam«, sagte Neci hinterher, kochend vor Wut. »Das war eine Falle.«
»Nein, die Wahrheit«, erwiderte Ingo, trunken von dem Erlebnis. »Ungewohnt, was?«
Damit ließ er ihn stehen.
16
Innozenzia Müller führte den Kiosk beim Effertz-Kino schon ihr ganzes Leben lang. Lotto, Toto, Tabak und Süßigkeiten. Sie sah nicht ein, wieso sie damit aufhören sollte, nur weil sie zufällig siebzig Jahre alt war. Der Kiosk gehörte ihr schließlich, hatte ihr schon gehört, als das Kino noch Central-Lichtspiele geheißen und man für eine Eintrittskarte nur ein paar Pfennige gezahlt hatte. Mit riesigen gemalten Filmplakaten und Filmstars wie Maria Schell, Lieselotte Pulver und O. W. Fischer – ach ja.
Und was sollte sie zu Hause die Wände anstarren, wenn sie stattdessen in ihrem Kiosk sitzen und den Leuten zugucken konnte, wie sie ins Kino strömten? Manche deckten sich vorher bei ihr mit Süßigkeiten ein, denn drinnen war alles viel teurer. Man musste die Sachen halt im Mantel hineinschmuggeln. War kein Problem. Reichte, kurz nach zwanzig Uhr Schluss zu machen.
Dass die drei Jungen, die an diesem Abend um fünf vor acht hereinkamen, Ärger machen würden, wusste sie irgendwie gleich. Schon weil die beiden, die sie draußen ließen, aussahen, als stünden sie Schmiere. Aber es ging alles viel zu schnell, als dass sie das Telefon erreichen und die Notruftaste hätte drücken können. Die drei zogen sich blitzschnell Skimasken über die Köpfe und kamen auf sie zugerannt. Einer raffte dutzendweise Zigarettenschachteln aus dem Regal und stopfte sie in eine Sporttasche, die beiden anderen sprangen über die Theke, stießen sie weg, boxten sie in den Bauch und gegen die Brust, dass sie hinfiel.
Der eine machte sich hektisch an der Kasse zu schaffen, bekam sie aber nicht auf.
»Wie geht die Kasse auf? Hä?«, schrie der andere sie an. »Wie geht die Scheiß-Kasse auf?«
Innozenzia Müller sah wie erstarrt in seine vor Hass und Gier glänzenden Augen. »Ich weiß nicht …«
Sie wusste es wirklich nicht. Sie wusste nicht, wieso die Kasse nicht aufging. Das Gerät war über zwanzig Jahre alt, hatte jeden einzelnen Tag davon zuverlässig funktioniert.
»Du verdammte alte Schlampe«, schrie der Maskierte und
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