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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Umständen eine ganz andere Moral als Sie. Für ein Mitglied einer Straßengang zum Beispiel, wie sie in manchen Teilen der Welt häufig sind, ist das Töten nichts Verwerfliches, sondern ein Zeichen von Männlichkeit, vielleicht ein Aufnahmeritual. Für Mitglieder mafiöser Organisationen sind Mitglieder der eigenen Familie, der eigenen Gruppe sakrosankt – ihnen gegenüber wird er nicht einmal lügen –, alle anderen Menschen dagegen sind Freiwild, das man berauben, missbrauchen oder töten kann, wie es den eigenen Zwecken am besten dient. Menschen, die nicht der eigenen Gruppe angehören, werden also im Grunde nicht als Menschen, nicht als gleichwertig betrachtet: Das ist ein Muster, das sich überall findet. Es ist uralt. Es ist eine bedeutende kognitive Leistung, durch alle äußerlichen Unterschiede hindurch die grundsätzliche Gleichartigkeit seines Gegenübers zu erkennen. Und zu dieser Leistung sind noch bei Weitem nicht alle Menschen fähig. Oder einfach ausgedrückt: Die meisten Verbrecher sind zu dumm dazu.«
    Gelächter, Schmunzeln auf den Gesichtern, aber es war ein angespanntes Schmunzeln. Die Blicke blieben wachsam.
    »Das werde ich Ihnen alles noch so oft sagen, dass es Ihnen irgendwann zu den Ohren rauskommt«, flachste David Mann und fuhr sich mit der Hand über die schütteren Haare. »Kommen wir zum Ablauf eines Angriffs. Jeder Angriff durchläuft fünf Stufen. Ich nenne sie Entschluss, Austesten, Angriffsposition, Attacke und Reaktion. Erklär ich gleich genauer. Wichtig ist, dass Sie verstehen, wie diese Stufen auseinander hervorgehen. Der eigentliche Angriff geschieht in der vierten Stufe, der Attacke. Das heißt, der Attacke gehen drei Stufen voraus, und nur wenn Sie die erkennen, haben Sie eine Chance, zu verhindern, dass es überhaupt zu einem Angriff kommt. Das ist auch mit ein Grund, warum ich so viel Wert darauf lege, dass Sie überzeugend sind, wenn Sie den Angreifer spielen. Wir machen das nicht nur, damit die Verteidiger einen Gegner haben, sondern auch, damit Sie lernen, instinktiv zu verstehen, was in einem potenziellen Angreifer vor sich geht. Sie müssen, wenn Sie den Angreifer spielen, ihn nicht nur spielen, sondern Sie müssen ein Angreifer sein . Sie müssen denken wie ein Angreifer, fühlen wie ein Angreifer. Weisen Sie das nicht von sich! Zivilisiert zu sein heißt nicht, diese Impulse nicht zu haben! Zivilisiert sein heißt, sie zu beherrschen . Ein Angreifer ist nichts anderes als eine banale, würdelose Variante des Jägers, und unsere Spezies hat den größten Teil der Zeit, die sie existiert, als Jäger und Sammler gelebt, nicht als Ackerbauer oder Computerprogrammierer. Das heißt, wir haben die entsprechenden Instinkte alle noch in uns, wir müssen sie nur wecken und anerkennen.«
    Ingo musste an seinen Vater denken und was der zu diesem Thema zu sagen gehabt hätte. Er hätte David Mann in praktisch jedem Punkt widersprochen.
    Allerdings war sein Vater in seinem Leben auch niemals einem Kriminellen begegnet. In einer Jugendherberge hatte ihm einmal jemand, wie er öfters erzählt hatte, sein Shampoo entwendet: Das war die einzige Untat, der sein Vater je zum Opfer gefallen war. Und da war noch fraglich, ob es sich nicht vielleicht einfach um ein Versehen gehandelt hatte.
    »Die erste Stufe. Der Entschluss. Das ist etwas, das sich völlig im Inneren des Angreifers abspielt: Er beschließt, eine Gewalttat zu begehen. Er überschreitet dabei eine innere Grenze, vor der Menschen normalerweise zurückschrecken, die er aber wahrscheinlich schon öfter übertreten hat, sei es durch reale Taten oder nur in der Vorstellung. Diese Grenzüberschreitung verändert sein Verhalten auf eine Weise, die man wahrnehmen kann. Seine Körpersprache ist auf einmal anders. Seine Augenbewegungen sind andere, seine Sprechweise ist anders, seine Wortwahl – viele Zeichen, die Sie auf der unbewussten Ebene durchaus erkennen und die Ihnen ein ungutes Gefühl geben. Die meisten Menschen übergehen dieses Gefühl, weil es ihnen unangemessen vorkommt – und dadurch werden sie zu Opfern.«
    »Aber manche Leute rasten einfach aus«, wandte ein etwas untersetzter Mann ein, der geballte Kraft ausstrahlte. »Die haben da vorher keine Entschlüsse gefasst. Hundertprozentig nicht.«
    David Mann nickte. »Guter Einwand, danke. Natürlich laufen diese Stufen nicht immer schön gleichmäßig ab, vor allem nicht nach einem festen Zeitplan. Manchmal geht alles blitzschnell. Aber auch das hat immer eine

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