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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Vorgeschichte. In jemandem, der eines Tages ausrastet, hat sich vorher viel angesammelt – auch das kann man spüren. Auch so jemand muss sich irgendwann sozusagen selber die Erlaubnis gegeben haben, auszurasten, wenn der Druck zu hoch wird. Das entspricht der ersten Stufe. Er beschließt, dass es okay ist, auszurasten. Dass das sein gutes Recht ist, wenn ihm die Welt schon so viel Ungemach zumutet.« Er hob die Hand, ließ sie fallen. »Auch wenn das hart klingen mag: Letztlich liegt es an seiner mangelnden Fähigkeit, Probleme zu lösen.«
    Ingo trat zur Seite und lehnte sich gegen den Türrahmen. Es war schrecklich heiß hier drinnen. Wie wollten die da nachher noch Sport treiben, ohne tot umzufallen? Kopfweh hatte er auch, verdammt.
    »Die zweite Stufe«, hörte er David Mann weiter ausführen, »ist das Austesten. Die wenigsten Angreifer springen einfach plötzlich aus dem Gebüsch. Viel zu riskant. So jemand will wissen, mit wem er es zu tun hat, und vor allem, ob er sich vielleicht eine blutige Nase holt, wenn er den Betreffenden angreift. Deshalb checkt er erst einmal ab, ob die Zielperson auch als Opfer taugt. Bei den meisten Verbrechen redet der Täter vorher mit dem späteren Opfer – in der Regel unter einem Vorwand. Bei fast allen Vergewaltigungen hat der Täter die Frau vorher unter irgendeinem Vorwand berührt. Er macht das, weil er sehen will, wie das Opfer auf Übergriffe reagiert. Er sucht nach Mängeln in der Aufmerksamkeit, nach Gelegenheiten, nach übermäßiger Furcht, die sich ausnutzen lässt, nach Zeichen, ob der Betreffende sich wehren wird und wie wirkungsvoll er sich wehren wird. Wenn Sie jemand um einen Euro bittet, um Feuer für eine Zigarette, oder Sie nach der Uhrzeit fragt, dann kann es wirklich nur um den Euro, das Feuer, die Zeit gehen – es kann aber auch ein Vorwand sein, ein Versuch, Ihre Grenzen auszutesten, herauszufinden, ab wann Sie ein klares Signal geben, dass der andere eine rote Linie überschreitet, ob Sie nervös werden, ob Sie zurückschrecken – kurzum: Wie weit er gehen kann. Insbesondere Berührungen sind ein wichtiges Signal, auf das Sie achten müssen. Wenn jemand Sie plötzlich auf eine Weise berührt, die eine Grenzüberschreitung darstellt, kann es sein, dass Sie sich bereits mitten in den Vorbereitungen eines Verbrechens befinden.«
    Ziemlich interessant, fand Ingo. Wenn bloß diese Kopfschmerzen nicht gewesen wären. Das kannte er gar nicht von sich, er neigte eigentlich nicht zu Kopfweh, nicht einmal, wenn er die Nächte durcharbeitete.
    »Dieses Austesten kann äußerst unterschiedlich ablaufen. Es kann insgeheim vor sich gehen, es kann sich über lange Zeit hinziehen, es kann harmlos anfangen und plötzlich in einen Angriff eskalieren, es kann von Anfang an aggressiv sein, es kann als Stalking beginnen, und, und, und. All diese Varianten besprechen wir im Lauf der Zeit genauer. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie, wenn das Opfer abgecheckt ist, in die dritte Stufe übergehen: Der Angreifer begibt sich in eine Position, von der aus er einen Angriff führen kann. Dabei spielen im Wesentlichen nur drei Elemente eine Rolle – erstens das Überraschungsmoment, zweitens, dem anderen den Fluchtweg abzuschneiden, und drittens, sich ihm zu nähern für den eigentlichen Angriff. Diese drei Elemente müssen gegeben sein, und die müssen Sie erkennen lernen. Das ist nicht schwierig – wie gesagt, Kriminelle sind alles andere als Intelligenzbestien. Wenn Sie erst einmal wissen, worauf Sie achten müssen, könnte der andere auch ein rotes Alarmlicht am Kopf haben.« David Mann hob die Hände. »Wenn es ihm aber gelingt, Sie in eine Ecke zu drängen, Sie zu überraschen und sich Ihnen zu nähern, dann beginnt der eigentliche Angriff.«
    Verdammt interessant, das alles, sagte sich Ingo. Wenn es bloß nicht so heiß gewesen wäre hier drinnen. Vielleicht war es eine gute Idee, David Mann noch einmal in seine Sendung einzuladen, um diese Dinge vor Fernsehpublikum zu erläutern.
    »Und schließlich, ganz wichtig, Stufe fünf – die Reaktion auf all das. Ihre Reaktion. Die Reaktion des Angreifers auf Ihre Reaktion. Was passiert, wenn Sie sich wehren? Es kommt zum Kampf. Vielleicht gelingt es Ihnen, sich zu wehren, vielleicht aber auch nicht. Wenn Sie nicht trainiert sind, gelingt es Ihnen eher nicht. Bedenken Sie, der Angreifer ist trainiert. Er hat das ziemlich sicher schon einmal gemacht, und es hat gut genug funktioniert, dass er bereit ist, es zu wiederholen.«

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