Todesengel: Roman (German Edition)
David Mann drehte sich langsam um sich selbst. »Doch was ist, wenn Sie nachgeben? Wenn Sie Furcht zeigen? Das kann bei Ihrem Angreifer eine Art Machtrausch auslösen. Bedenken Sie, kein emotional gesunder Mensch greift einen anderen, den er für schwächer hält, mit einer Waffe an. Das machen nur emotionale Krüppel, Leute, die selber Schwächlinge sind, die das aber um nichts in der Welt zugeben würden. So jemand hat Sie jetzt vor sich, zitternd vor Furcht, und findet sich damit in einer Position wieder, die er als unbegrenzte Macht empfindet. Es ist buchstäblich unvorhersagbar, was so jemand dann tun –«
»Oh!«, rief plötzlich einer der jungen Männer und wies in Ingos Richtung. Alle sahen sie auf einmal her, alle mit ganz erschrockenen Gesichtern.
Da erst merkte Ingo, dass ihm Blut aus der Nase schoss, ein feuchter, roter Strom, der ihm heiß und klebrig in den Mund lief und über das Kinn den Hals hinab in sein T-Shirt.
Victoria hatte das Gefühl, nach und nach zwischen zwei gegensätzlichen Empfindungen zerrieben zu werden. Auf der einen Seite schien die Zeit dahinzurasen – gestern war der neue Biokorb gekommen, ohne Zeitung diesmal, aber dennoch das eindeutige Signal, dass schon wieder eine Woche verstrichen war. Heute hatten die Kontoauszüge im Briefkasten gelegen: das Zeichen, dass ein weiterer Monat vorüber war. Und alles so rasend schnell!
Auf der anderen Seite schien überhaupt keine Zeit zu vergehen. Sie hatte vielmehr das Gefühl, denselben Tag wieder und wieder zu durchleben. Unmöglich, dass es schon drei Tage her sein sollte, dass sie im Priesterseminar angerufen hatte. Es konnte nicht sein, dass Peter sie auf eine solche Bitte hin nicht anrufen würde, oder? Nein, das war undenkbar. Also konnte es nur heißen, dass der Mann, mit dem sie telefoniert hatte, ihre Nummer eben doch nicht weitergegeben hatte.
Ob sie es noch einmal versuchen sollte? Das kam ihr zwecklos vor. Vielleicht war das die Art, wie sie derlei Dinge handhabten: den Anrufenden alles versprechen, Hauptsache, sie gaben Ruhe, und dann nichts davon tun, um den spirituellen Frieden ihrer Zöglinge nicht zu stören.
Aber wen sollte sie sonst anrufen? Sie hatte zu niemandem von damals mehr Kontakt. Genau genommen hatte sie überhaupt keine Kontakte mehr, abgesehen von ihren beruflichen Aktivitäten. Der Einzige, der sich an ihren Geburtstag erinnerte, war ihr Computer.
Solche und ähnliche, immer wieder gleiche Überlegungen anstellend, stand sie ewig lang vor dem Tischchen mit dem Telefon, bis ihr schließlich etwas Wichtiges klar wurde: nämlich, dass das Telefon ohnehin nicht die Lösung war. Sie würde nicht mit Peter sprechen können, ohne ihn dabei vor sich zu haben, sein Gesicht zu sehen, den Ausdruck in seinen Augen. Es hatte keinen Zweck, ihn anzurufen. Es musste ein persönliches Gespräch sein, nichts anderes kam infrage.
Und das war selbstverständlich völlig unmöglich.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, meinte David Mann, während er Ingo eine weitere eiskalte Kompresse in den Nacken legte. »Mit Nasenbluten haben wir hier reichlich Erfahrung. Das ist sozusagen die häufigste Nebenwirkung des Trainings. Eine ungeschickte Bewegung des Partners – und zack, schon ist es passiert.«
Ingo sah den tiefroten Tropfen nach, die von seiner Nasenspitze auf die schneeweiße Keramik des Waschbeckens tropften. Wie Blut auf Schnee. Man hätte ein Foto davon als Umschlag eines Thrillers verwenden können.
»Ich habe aber doch gar nichts gemacht«, meinte er. Wegen der blutstillenden Watte in seinem Nasenloch klang es wie: Ig abe aba dog ga nikt gemagt.
»Dann wird es die Aufregung gewesen sein.«
Ingo wurde das Gefühl nicht los, auszulaufen, hier in diesem kahlen, rundherum in Weiß und Edelstahl gehaltenen Toilettenraum zu verbluten. Seine Fingerspitzen fühlten sich bereits ganz kalt an.
»Ich hab Ihnen ja gleich gesagt, dass das nichts für mich ist«, sagte er.
David Mann lachte. »Eine derart heftige Ablehnung finde ich ehrlich gesagt schon fast verdächtig. Aber ich will Sie zu nichts zwingen. Das muss von Ihnen selber kommen. Und wenn nicht, dann halt nicht.«
Ingo drehte den Kaltwasserhahn wieder auf, verteilte das Wasser mit der Hand im Becken, spülte das Blut in den Ausguss. »Eigentlich wollte ich Sie nur fragen, ob Sie den Sohn einer … einer Bekannten unterrichten würden. Vierzehn Jahre alt. Er wird in der Schule gemobbt, und ich dachte, vielleicht –«
»Klar«, sagte der
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