Todesengel: Roman (German Edition)
Selbstverteidigungs-Lehrer sofort. »Am besten gleich morgen Nachmittag. Um fünfzehn Uhr ist der Einführungskurs für Jungen zwischen zwölf und sechzehn, um sechzehn Uhr dreißig der für Mädchen. Übrigens ist der Umgang mit Mobbing bei uns ständiges Thema.«
»Er ist nicht so der Kämpfertyp. Sein Lieblingsfach ist Kunst.«
»Dann ist er hier genau richtig.« David Mann hob die Kühlpackung ab. Ingos Nacken fühlte sich tiefgefroren an. »Und? Ich hab das Gefühl, es hat aufgehört.«
Ingo richtete sich behutsam auf, betrachtete sich im Spiegel. Er sah aus wie der einzige Überlebende eines Massakers. »Oh je. So kann ich unmöglich auf die Straße.«
»Keine Sorge, Sie kriegen ein T-Shirt von mir. Mit dem Logo meiner Schule sogar.« Er deutete auf Ingos blutverkrustete Brust. »Wenn Sie das gleich hier ausziehen und in kaltem Wasser auswaschen, kriegen Sie die Flecken vielleicht raus. Sie nehmen es in einer Plastiktüte nass mit nach Hause, lösen zwei Aspirin in gerade so viel eiskaltem Wasser auf, dass das T-Shirt bedeckt ist, und lassen es mindestens zwei Stunden einweichen. Dann sofort in die Waschmaschine und das Beste hoffen.«
»Sie kennen sich wirklich aus, was?« Ingo fasste das T-Shirt am Halsausschnitt, versuchte, es sich über den Kopf zu ziehen, ohne allzu viel Blut in seine Haare zu bringen.
»Mit manchen Dingen schon«, sagte David Mann.
»Sorry für die Umstände.« Das Unterhemd hatte auch etwas abgekriegt. Er zog es ebenfalls aus. Jetzt hörte man ganz weit weg hektische Schritte, Gerumpel, Schreie. Die Jungs vom Bundesgrenzschutz hatten sich, während David Mann ihn mit untergehaltener Hand weggeführt hatte, ohne Zögern um die Blutflecken auf dem Boden gekümmert. »Die machen das Training ohne Sie, wie es sich anhört.«
Der Krav-Maga-Trainer schmunzelte. »Das ist ja auch der Sinn der Sache.«
Irgendwann hob Tim Kerner den Kopf vom Okular des Mikroskops, sah auf die Uhr und war baff: Wie die Zeit verging! Kein Wunder, dass ihm allmählich der Magen knurrte, es war schon fast Mittag. Er hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, diese seltsame Faser von vorne bis hinten zu studieren. Und immer noch nicht die leiseste Idee, womit er es zu tun hatte.
Er rieb sich das Gesicht, massierte seine Augenwinkel. Er würde jemanden fragen müssen. Um Hilfe bitten. Was er hasste. Alleine arbeiten zu können war einer der Vorzüge seines Jobs, den er am meisten schätzte.
Er überlegte. Es gab drüben im Hauptlabor ein geringfügig leistungsstärkeres Mikroskop – bloß hatte er irgendwie das Gefühl, dass ihm das auch nicht weiterhelfen würde.
Aber eine Materialanalyse vielleicht. Das hieß, rüber ins Hans-Jochen-Lommatsch-Institut fahren, ins Anwenderzentrum Materialforschung. Die konnten alles – Dünnschicht-Charakterisierung mit einem Raster-Auger-Mikroskop, Fotoelektronen-Spektroskopie, Transmissionselektronenmikroskopie, Nuklearmagnetresonanz, Gaschromatografie, die ganze Palette rauf und runter. Die arbeiteten auch häufig für die Kriminalistik, kannten sich aus.
Wenigstens hatte er dort einen Ansprechpartner, den er kannte. Er seufzte, nahm den Hörer ab – der war staubig, hatte er so lange nicht mehr telefoniert? –, suchte die Nummer heraus und wählte. Starrte die rätselhafte schwarze Faser an, während es am anderen Ende klingelte.
Eine Frau meldete sich. Er sagte, wen er sprechen wolle, und sie sagte ihm, es täte ihr leid, aber Doktor Müller sei schon seit anderthalb Jahren nicht mehr da, sie habe seine Stelle übernommen. Beatrice Woll sei ihr Name, was sie für die Kriminalpolizei tun könne?
Tim Kerner hatte die Website des Anwenderzentrums sowieso gerade am Schirm, brauchte also nur ins Mitarbeiterverzeichnis zu klicken. Da: Professor Doktor Beatrice Woll. Habilitation über anorganische nanostrukturierte Materialien. Professorin im Studiengang Mess-, Sensor- und Oberflächenanalysentechnik. Aussehen tat sie aber ganz harmlos. Richtig nett sogar.
»Ich bräuchte einen Termin«, sagte Tim Kerner. »Ich hab da einen Fall, bei dem ich mit meinem Latein am Ende bin.«
»Kommen Sie doch gleich«, sagte Frau Professor Doktor Woll freundlich.
Aspirin? Erst als Ingo in der U-Bahn nach Hause saß, kam er dazu, über diesen Tipp nachzudenken und darüber, wie merkwürdig er ihn fand. Wobei er sich mit Fleckentfernung und Wäschepflege nicht auskannte; er war zum ersten Mal in der Verlegenheit, Blut aus einem seiner Kleidungsstücke waschen zu müssen. Aber
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