Todesengel: Roman (German Edition)
ausgerechnet Aspirin …?
Er betastete den allmählich trocknenden Wattepfropf in seinem Nasenloch. Hoffentlich würde das nicht wieder anfangen zu bluten, wenn er den nachher rauszog. In rund sechs Stunden musste er im Studio stehen, da konnte er keine blutende Nase gebrauchen.
Also gut. Er würde das mit dem Aspirin versuchen. Warum auch nicht. Er stieg eine Haltestelle früher aus, um in einer Apotheke welches zu besorgen. Er fröstelte, als er an die Oberfläche kam, nur mit dem T-Shirt unter der Jacke.
Hier war der Wahlkampf in vollem Gange. Hundertfach begegneten einem die immer selben Gesichter, grinsten einen von aufgestellten, angeklebten, an Laternenmasten festgezurrten oder aufgehängten Anschlagtafeln an. Manche der Plakate waren abgerissen, mit Dreck beworfen oder beschmiert: WEG MIT IHM hatte jemand über das Porträt des amtierenden Oberbürgermeisters gekritzelt.
Später, zu Hause, als er den Pfropf herauszog, kam nur noch ein wenig einer blutigen, glibberigen Masse mit heraus und ein paar Resttropfen, aber ansonsten blutete die Nase nicht mehr. Er warf die Watte weg, spülte das Waschbecken mit viel Wasser aus. Dann musste er sich erst einmal setzen. Er fühlte sich, als hätte er einen Berg bestiegen oder einen Baum mit bloßen Händen ausgerissen oder dergleichen, völlig erledigt auf jeden Fall. Selbst Sitzen war noch zu anstrengend, also legte er sich auf die Couch, starrte an die Decke, den rechten Unterarm über der Stirn, und dachte eine Weile lang gar nichts.
Als er wieder fit genug war, um aufzustehen, probierte er das mit der Aspirinlösung. Er nahm etwas mehr Wasser und drei Tabletten, wegen des Unterhemds. Ziemliche Sauerei, das alles. Er fühlte sich richtiggehend geschwächt, sobald er das viele Rot sah, von dem er sich sagen musste, dass es sich dabei ja um sein eigenes Blut handelte. Und wenn es hundertmal stimmte, was ihm David Mann mit auf den Weg gegeben hatte: Dass vergossenes Blut immer nach viel, viel mehr aussehe, als es tatsächlich sei. Eine instinktgesteuerte Verzerrung der menschlichen Wahrnehmung, so ähnlich, wie einem Höhen dramatischer vorkamen als dieselben Entfernungen in der Ebene. Weil Blutverlust schon immer Lebensgefahr bedeutet hatte und Höhe schon immer die Gefahr, zu Tode zu stürzen.
Okay, zwei Stunden einweichen konnten die Stücke zum Glück ohne ihn. Es tat gut, sich endlich an den Schreibtisch zu setzen und zu arbeiten. Er rief den Aufnahmeleiter an, erkundigte sich, ob mit den vorgesehenen Gästen alles klappte. Tat es. Das ermutigte Ingo zu einer weiteren Frage, nämlich, ob er Mitschnitte seiner Sendungen haben könne, auf DVD zum Beispiel. Wer mochte wissen, wie lange diese Reihe laufen würde? Es konnte Rado jeden Tag einfallen, die Sache wieder einzustampfen und die nächste Variante zu starten. Dann würden diese Aufnahmen das Einzige sein, was er später einmal würde vorzeigen können. Von seinen Kindershows besaß er nichts mehr außer der Erinnerung, wie peinlich ihm jede einzelne Sendung gewesen war.
Er checkte seine Mails. Etliche Dutzend Zuschauer hatten ihm geschrieben, dass sie seine Sendung gut fänden.
Wir sollten uns mehr in der Welt umschauen, wie es andere machen, und daraus lernen. In Singapur zum Beispiel werden Gewalttäter mit Peitschenhieben bestraft: Man glaubt gar nicht, wie wirksam das ist! In keiner anderen Großstadt können Sie sich nachts so sicher fühlen wie dort , schrieb einer.
Ein anderer: Ich will ja niemandem was Böses wünschen, aber dieser eingebildete sogenannte Professor ist meines Erachtens noch nie einem wirklichen Gewalttäter begegnet.
Ein dritter: Ich würde auch in Ihre Sendung kommen. Wie viel Honorar kriegt man da? Ich hatte vor zwei Jahren eine Schlägerei auf Mallorca, ich allein gegen zwei angetrunkene Engländer, die beide zehn Jahre jünger waren als ich. Ich hab die mit Karate fertiggemacht, aber dann bin ich schnell abgehauen, auf den Rat des Wirts hin, um keine Scherereien mit der Polizei zu kriegen. Es ist überall dasselbe! Wer sich verteidigt, ist der Arsch, bloß die Schlägertypen fasst man mit Samthandschuhen an.
Ein vierter: Machen Sie weiter so! Endlich mal jemand, der die Dinge beim Namen nennt!
Auf seinem Blog hingegen tat sich immer noch nichts. Ingo fragte sich, wo die Leute, die ihm schrieben, eigentlich seine E-Mail-Adresse herhatten. Schließlich fiel ihm ein, sich die Website der Sendung anzuschauen. Tatsächlich, da stand sie, dick und fett, direkt unter einem Foto
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