Todesengel: Roman (German Edition)
von ihm und neben einer heftig geschönten Version seines Lebenslaufs.
Anschließend rief er Evelyn an. Im Büro. Sie war ganz verdutzt, dass er am Telefon war, wollte wissen, woher er die Nummer habe.
»Recherchiert«, sagte Ingo. »Das machen Journalisten manchmal.«
Sie schien geschmeichelt, dass er sich ihretwegen so viel Mühe gemacht hatte. Dabei war es ein Kinderspiel gewesen; ihr Arbeitgeber stand im Telefonbuch. Laut Gelben Seiten war er der einzige Importeur griechischer Lebensmittel im Stadtteil Neubogen und damit der Einzige, auf den Evelyns Behauptung, sie könne zu Fuß ins Büro gehen, zutreffen konnte.
»Ich habe Ihre Sendung gestern gesehen«, erzählte sie. »Ich fand es großartig, wie Sie diesem aufgeblasenen Professor die Luft herausgelassen haben. Dass Sie aber auch gerade jemanden mit einer solchen Lebensgeschichte im Publikum hatten …«
»Das war kein Zufall. Ich wusste, was Professor Neci sagen würde.«
»Trotzdem. Wie Sie das gemacht haben … Beeindruckend. Doch. Sie kommen sehr gut rüber als Moderator. Hätte ich ehrlich gesagt gar nicht gedacht, so, wie ich Sie kennengelernt habe. Aber jetzt … also, ich glaube, Sie werden noch berühmt.«
»Ach was.«
»Doch. Glaube ich.«
»Das sind nur die fünfzehn Minuten Ruhm, die jeder irgendwann hat. Wie man so sagt.«
Evelyn gab ein unwilliges Knurren von sich. »Ehrlich gesagt fand ich diesen Spruch schon immer entsetzlich. Der entwertet irgendwie alle Anstrengungen, die man unternimmt.«
Ingo beschloss, das nicht weiter zu vertiefen. »Ich ruf Sie eigentlich an, um Sie was zu fragen, wegen Kevin«, sagte er, womit er ihre Aufmerksamkeit natürlich sofort auf das neue Thema lenkte. Er erklärte ihr, was er Kevin vorschlagen wollte, nämlich einen Krav-Maga-Kurs für Jugendliche zu besuchen.
Am anderen Ende der Leitung herrschte erst mal Stille. »Ich weiß nicht«, meinte sie mit hörbarem Unbehagen. »Ich weiß nicht, ob ich will, dass mein Sohn sich mit seinen Mitschülern prügelt.«
»Es geht nicht darum, dass er sich prügelt, sondern dass er imstande wäre, sich zu verteidigen, wenn es sein muss. Meiner persönlichen Erfahrung nach werden nämlich hauptsächlich diejenigen verprügelt, die sich nicht verteidigen können«, sagte Ingo und merkte gerade noch, dass er im Begriff gewesen war, an dem verkrusteten Schorf in seiner Nase zu popeln. Er nahm die Hand weg, schob sie unter seinen Oberschenkel. »Außerdem umfasst diese Methode ganz viel Prävention – also, was man im Vorfeld machen kann, dass es gar nicht erst zu Gewalt kommt. Dass man anders auftritt, verstehen Sie?«
Er fühlte den Hörer in seiner Hand glitschig werden von dem Schweiß, der ihm plötzlich ausbrach. Schon seltsam, wie er heute reagierte. Vielleicht hatte er zu wenig geschlafen. Oder es waren Nachwirkungen von dem Stress, unter dem er am Vortag gestanden hatte, wegen Neci. Die Hektik, Schwittol aufzutreiben, zu überreden, abzuholen und durch den Zuschauereingang zu bugsieren. Die bangen Minuten, die es jeweils gedauert hatte, den Tonmann zu beschwatzen, Necis Mikrofon auf ein Zeichen hin abzudrehen, und den Live-Cutter, die Website Schwittols einzublenden, ohne jemandem von der Crew etwas zu sagen.
»Ich weiß nicht.« Evelyn seufzte. »Wann wäre das denn?«
Sein Mailprogramm poppte mit einem Fenster auf, das ihn um sein Einverständnis bat, eine Mail von mehr als zehn Megabyte Umfang zu laden. Ingo klickte auf OK und sagte: »Morgen Nachmittag um drei. Ich würde ihn auch hinbringen.«
Er hörte sie überrascht einatmen. »Das müssen Sie doch nicht!«
»Würde ich aber gerne. Außerdem war es ja meine Idee.« Er räusperte sich, nahm den Hörer in die andere, trockenere Hand. »Ich stell mir einfach vor, es wird ihm lieber sein, jemand ist dabei, als wenn er da ganz allein hinmuss.«
Der Ladebalken auf dem Bildschirm füllte sich sehr, sehr langsam. Die Mail musste wesentlich größer sein als zehn Megabyte.
»Also gut«, sagte Evelyn. »Ich frag ihn mal. Bis wann müssen Sie Bescheid wissen?«
»Ich hab das Okay, dass wir einfach nur zu kommen brauchen. Im Grunde muss ich es halt morgen früh wissen, damit ich ihn abholen komme.«
»Das ist wirklich fürsorglich von Ihnen, aber ich will Ihnen keine großen Hoffnungen machen. Kevin hasst Sport.«
»Hab ich mitgekriegt. Aber Krav Maga ist kein Sport. Das betont Herr Mann ungefähr dreimal pro Stunde.«
»Na gut. Das sag ich ihm.« Sie hüstelte. »Ich glaube, ich muss aufhören, es
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