Todesengel
ein ganzes Stück gewachsen. Die Pfoten des Hundes waren inzwischen schon so groß wie Nikkis Hände.
»Der wird ganz schön groß werden«, sagte David. Während er zusammen mit Nikki im Vorraum hinter der Küche ein Körbchen für Rusty zurechtmachte, bereitete Angela das Abendessen für Nikki vor. Sie war nicht gerade begeistert darüber, daß sie vor ihren Eltern essen sollte, doch inzwischen war sie viel zu müde, um lange zu protestieren. Nachdem sie gegessen und ihre Atemgymnastik hinter sich gebracht hatte, fiel sie völlig erschöpft ins Bett; Rusty war ebenso müde und kam in sein Körbchen. »Ich habe noch eine kleine Überraschung für dich«, sagte Angela zu David, nachdem Nikki im Bett war und sie zusammen die Treppe hinunterstiegen. Sie nahm seine Hand und führte ihn in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank und nahm eine Flasche Chardonnay heraus. »Oh!« rief David und warf einen Blick auf das Etikett. »Das ist aber nicht die Billigmarke, die wir sonst immer trinken.«
»Wohl kaum«, erwiderte Angela. Dann griff sie noch einmal in den Kühlschrank und holte einen Teller heraus, der mit einem Tuch bedeckt war. Darunter kamen zwei dicke Kalbskoteletts zum Vorschein.
»Ich glaube, hier hat jemand einen Festschmaus vorbereitet«, sagte David.
»Genauso ist es. Es gibt Salat, Artischocken, wilden Reis und Kalbskoteletts. Und dazu den besten Chardonnay, den ich auftreiben konnte.«
David grillte das Fleisch auf der Terrasse vor der Bibliothek. Dort war an einer Seite eine große Feuerstelle eingerichtet worden. Als er mit dem gegrillten Fleisch ins Haus zurückging, hatte Angela die übrigen Zutaten schon auf dem Eßzimmertisch bereitgestellt. Die Nacht war sanft hereingebrochen; in der Dunkelheit flackerten nur die beiden Kerzen, die in der Mitte des Tisches standen, und erhellten die allernächste Umgebung. Die Unordnung, die ringsherum herrschte, war plötzlich unsichtbar geworden.
David und Angela saßen einander gegenüber am Tisch. Sie sprachen wenig während des Essens; die romantische Atmosphäre ließ sie beide nicht unberührt. Nach dem Essen blieben sie noch eine Weile sitzen und lauschten einer Sinfonie verschiedenster Sommernachtsgeräusche, die durch die geöffneten Fenster hereindrangen. Das flackernde Kerzenlicht verbreitete eine sinnliche Stimmung. Sie standen beide gleichzeitig auf. Engumschlungen fanden sie den Weg in das dunkle Wohnzimmer. Während im Hintergrund ein Chor von Grillen zirpte, liebten sie sich zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause.
Der nächste Morgen begann mit einem großen Durcheinander. Als der Hund bellte, weil er gefüttert werden wollte, und gleichzeitig Nikki quengelte, weil sie ihre Lieblingsjeans nicht finden konnte, verlor Angela die Geduld. Von David war keine Hilfe zu erwarten; er suchte verzweifelt nach der Liste, auf der er sich notiert hatte, wo in den Dutzenden von unausgepackten Kisten sich welche Sachen befanden.
»Jetzt reicht’s mir aber!« schrie Angela. »Ich will kein Gequengel und kein Bellen mehr hören!« Für einen Augenblick gab sogar Rusty keinen Ton mehr von sich.
»Beruhige dich, Schatz«, sagte David. »Es bringt doch überhaupt nichts, wenn du dich aufregst.«
»Erzähl mir bloß nicht, daß ich mich nicht aufregen soll.« Angela war nicht zu bremsen.
»Ist ja schon gut«, sagte David ganz ruhig. »Ich kümmere mich jetzt erst mal um einen Babysitter.«
»Ich bin kein Baby mehr«, begann Nikki erneut zu quengeln.
»Warum zum Teufel bleibt mir eigentlich nichts erspart?« grummelte Angela vor sich hin und starrte die Zimmerdecke an.
Während David unterwegs war, um Alice Doherty, die ältere Schwester der Maklerin Dorothy Weymouth, abzuholen, beruhigte sich Angela. Auf einmal wußte sie genau, daß es ein Fehler gewesen war, ihren Arbeitgebern zu sagen, daß sie die neuen Stellen schon am ersten Juli antreten wollten. Ein paar freie Tage wären kein Luxus gewesen, und sie hätten sich in aller Ruhe in ihrem neuen Haus einrichten können.
In der angespannten Situation erschien Alice wie ein Geschenk des Himmels. Mit ihrem warmherzigen und liebevollen Gesicht, ihren funkelnden Augen und den schneeweißen Haaren wirkte sie richtig großmütterlich. Für eine Frau von neunundsiebzig Jahren war sie erstaunlich agil; sie strotzte nur so vor Energie. Gleichzeitig war sie mitfühlend und geduldig - zwei Eigenschaften, die für die Betreuung eines chronisch kranken und so eigenwilligen Kindes wie Nikki Voraussetzung waren. Am
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