Todesengel
die Hand entgegen. Ohne Kelley zu beachten, stellte er sich seinem neuen Kollegen selbst vor und bot David sofort an, ihn Kevin zu nennen. Dann klopfte er David kumpelhaft auf die Schulter und sagte: »Herzlich willkommen in unserer Mannschaft! Spielst du Basketball oder Tennis?«
»Beides ein bißchen«, antwortete David. »Aber in der letzten Zeit bin ich leider nicht oft dazu gekommen.«
»Wir werden dich schon wieder auf Trab bringen«, sagte Kevin.
»Bist du Orthopäde?« fragte David nun und sah sich seinen Kollegen etwas genauer an. Er war breit gebaut und hatte einen leicht aggressiven Gesichtsausdruck. Auf seiner etwas gebogenen Nase trug er eine Brille mit dicken Gläsern. Er war zehn Zentimeter kleiner als David; neben dem riesigen Kelley wirkte er geradezu wie ein Zwerg.
»Ich - ein Orthopäde?« fragte Kevin mit einem verächtlichen Lachen. »Wohl kaum! Ich habe es mit einem ganz anderen Teil des Körpers zu tun. Ich bin Augenarzt.«
»Und wo ist Dr. Portland?« wiederholte David nun seine Frage.
Kevin sah zu Kelley hinüber. »Haben Sie’s ihm noch nicht gesagt?«
»Dazu bin ich noch nicht gekommen.« Kelley machte eine Geste der Entschuldigung. »Er hat doch gerade erst seinen Dienst angetreten.«
»Leider ist Dr. Portland nicht mehr bei uns«, erklärte Kevin nun.
»Hat er die Klinik verlassen?« fragte David. »So kann man es auch nennen«, erwiderte Kevin mit einem trockenen Lachen.
»Dr. Portland hat im Mai Selbstmord begangen«, klärte Kelley ihn auf.
»Und zwar hier, in diesem Raum«, fügte Kevin hinzu. »Er saß dort am Schreibtisch.« Er zeigte auf den Schreibtisch und imitierte mit seiner Hand eine Pistole; sein Zeigefinger war gegen seine Stirn gerichtet. »Bum! Portland hat sich direkt in die Stirn geschossen, und die Kugel ist hinten wieder rausgekommen. Deshalb mußten die Wände frisch gestrichen und ein neuer Teppich verlegt werden.«
Davids Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Er starrte die leere Wand hinter dem Schreibtisch an und bemühte sich, nicht daran zu denken, wie diese wohl nach dem schrecklichen Ereignis ausgesehen haben mußte. »Wie furchtbar!« sagte er. »War Dr. Portland verheiratet?«
»Leider ja«, antwortete Dr. Yansen und nickte. »Er hinterläßt eine Frau und zwei kleine Jungen. Es ist wirklich eine Tragödie. Ich habe schon seit längerem geahnt, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte. Wie aus heiterem Himmel ist er eines Sonntagmorgens nicht zum Basketball erschienen und hat dann nie wieder an unserem Training teilgenommen.«
»Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, wirkte er krank«, sagte David. »Wissen Sie, was er hatte? Er war doch total abgemagert.«
»Depressionen«, antwortete Kelley. David seufzte. »Mein Gott, so etwas kann jeden treffen.«
»Wollen wir vielleicht lieber über ein angenehmeres Thema sprechen«, sagte Kelley, nachdem er sich vernehmlich geräuspert hatte. »Ich habe Sie nämlich beim Wort genommen, Dr. Wilson. Wir haben die ersten Ihrer neuen Patienten schon für heute morgen herbestellt. Sind Sie bereit?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte David.
Kevin wünschte David alles Gute und ging zurück in eines der Untersuchungszimmer. Kelley machte David als nächstes mit seiner künftigen Arzthelferin, Susan Beardslee, bekannt. Susan war Mitte zwanzig und eine attraktive Frau mit dunklem, kurz geschnittenem Haar, das ihr hübsches Gesicht umrahmte. Mit ihrer lebendigen und fröhlichen Art war sie David sofort sympathisch. »Ihre erste Patientin wartet schon im Untersuchungszimmer auf Sie«, sagte Susan aufmunternd und reichte David einen Patientenbogen. »Wenn Sie mich brauchen, drücken Sie bitte einfach auf den Knopf der Sprechanlage. Ich bitte inzwischen schon einmal den nächsten Patienten herein.« Mit diesen Worten verschwand sie in dem anderen Sprechzimmer.
»Ich sollte Sie nun wohl besser allein lassen«, sagte Kelley. »Viel Glück, David. Wenn Sie Fragen oder Probleme haben - lassen Sie’s mich wissen!«
David warf einen Blick in die Akte seiner ersten Patientin. Sie hieß Marjorie Kleber und war neununddreißig Jahre alt. Heute vormittag war sie gekommen, weil sie Schmerzen in der Brust hatte. David wollte schon an die Tür zum Untersuchungszimmer klopfen, als sein Blick noch einmal auf die Zusammenfassung der Krankengeschichte von Mrs. Kleber fiel: Vor vier Jahren, mit fünfunddreißig, hatte man bei ihr Brustkrebs diagnostiziert; sie war operiert worden und hatte danach eine Chemotherapie sowie mehrere
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