Todesengel
weiß. Glaubst du, er hat sämtliche Gerichtsentscheidungen der letzten zehn Jahre verschlafen, in denen es um sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz ging?« Angela zuckte nur mit den Schultern. »Ich will am liebsten gar nicht mehr darüber nachdenken. Wie war denn dein Tag? Hast du dir noch viele Gedanken wegen Marjorie gemacht?«
»Dazu habe ich gar keine Zeit gehabt«, erwiderte David. »Ich mußte mich intensiv um John Tarlow kümmern. Sein Zustand bereitet mir große Sorgen.«
»Was hat er denn?«
»Das ist es ja gerade: Ich weiß es nicht«, sagte David. »Und das bereitet mir den größten Kummer. Er ist total lethargisch, genauso wie Marjorie gestern. Er hat verschiedene Funktionsstörungen im Magen-Darm-Bereich. Das ist der Grund, weshalb er zur stationären Behandlung eingewiesen wurde, aber seine Beschwerden sind zusehends schlimmer geworden. Ich habe zwar keine Ahnung, was im Moment in seinem Körper vor sich geht, aber in meinem Kopf höre ich schon die Alarmglocken schrillen. Das Problem ist, daß ich absolut nicht weiß, was ich tun soll. Zur Zeit behandele ich einfach nur die Symptome.«
»Wenn ich solche Geschichten höre, bin ich immer wieder froh, daß ich mich für die Pathologie entschieden habe«, sagte Angela.
Nikki freute sich, als ihre Eltern endlich nach Hause kamen. Sie hatte sich fast den ganzen Tag gelangweilt, doch dann war zum Glück Arni vorbeigekommen und hatte ihr die neuesten Geschichten aus der Schule erzählt. »Wir haben jetzt einen Mann als Lehrer«, erzählte Arni David. »Und er ist total streng.«
»Vielleicht ist er trotzdem ein guter Lehrer«, erwiderte David und spürte, wie sich sein schlechtes Gewissen wieder meldete. Irgendwie fühlte er sich für Marjories Tod verantwortlich.
Während Angela das Abendessen vorbereitete, fuhr David Arni nach Hause. Als er zurückkam, lief Nikki ihm schon an der Tür entgegen. »Es ist so kalt im Wohnzimmer«, klagte sie.
David überprüfte den Heizkörper und stellte fest, daß er glühend heiß war. Danach kontrollierte er, ob die Schiebetür, die zur Terrasse hinausführte, geschlossen war. »Wo hast du denn die kalte Zugluft gespürt?« fragte David. »Auf dem Sofa«, antwortete Nikki. »Setz dich mal hierher, dann merkst du es selbst!«
David ließ sich neben seiner Tochter auf dem Sofa nieder und spürte sofort die kalte Luft in seinem Nacken. »Du hast recht«, sagte er und überprüfte die Fenster hinter der Sitzecke. »Ich glaube, ich weiß, was wir dagegen tun können. Wir müssen die Außenfenster anbringen.«
»Außenfenster?« fragte Nikki neugierig. »Was ist das?« Anstatt Nikkis Frage kurz zu beantworten, hielt David seiner Tochter einen Vortrag über Wärmeverlust, Konvektionsströmungen, Isolierung und Thermopenfenster.
»Du bringst sie doch ganz durcheinander«, rief Angela aus der Küche herüber. Sie hatte einen Teil der Unterhaltung mitgehört. »Sie hat doch nur gefragt, was ein Außenfenster ist. Warum zeigst du ihr nicht einfach eins?«
»Eine prima Idee«, erwiderte David. »Komm mit, Nikki. Dann holen wir auch gleich Holz aus dem Keller.«
»Ich geh’ nicht gerne in den Keller«, sagte Nikki, während sie zusammen die Treppe hinunterstiegen. »Warum denn nicht?« fragte David. »Es ist unheimlich hier unten«, antwortete Nikki. »Jetzt werd’ bloß nicht so wie deine Mutter«, zog David seine Tochter auf. »Eine hysterische Frau im Haus reicht.« Hinter der Kellertreppe waren mehrere Außenfenster gestapelt worden. David nahm eines, um es Nikki zu zeigen. »Sieht aus wie ein ganz normales Fenster«, stellte Nikki fest.
»Ja, aber man kann es nicht öffnen«, erklärte David. »Wenn man so ein Fenster zusätzlich von außen anbringt, dann wirkt die Luft zwischen dem inneren und dem äußeren Fenster wärmedämmend. Das hat zur Folge…« David brach mitten im Satz ab.
»Was ist denn los, Daddy?« fragte Nikki, als sie merkte, daß ihr Vater durch etwas anderes abgelenkt wurde. »Das fällt mir heute zum ersten Mal auf«, sagte er und tastete die Mauer hinter den aufgestapelten Fenstern ab. »Dies hier sind Mauerziegel.«
»Was sind Mauerziegel?« fragte Nikki. David war so sehr mit seiner neuesten Entdeckung beschäftigt, daß er die Frage seiner Tochter überhörte. »Laß uns die Doppelfenster wegräumen«, sagte er und trug das Fenster, welches er bereits in der Hand hielt, zur gegenüberliegenden Wand. Nikki nahm das nächste. »Diese Mauer ist völlig anders als alle anderen hier im
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