Todeserklärung
als er Gregor Pakulla anrief, spielten diese Motive keine Rolle. Er wollte seinem Mandanten nicht wirklich etwas mitteilen. Eher hoffte er, von Gregor Pakulla etwas zu erfahren, ohne dass er wusste, in welche Richtung er forschen und welche Erkenntnisse ihm das Gespräch bringen sollten. Er erreichte seinen Mandanten über das Handy. Keine Geräuschkulisse im Hintergrund. Sein Mandant schien in einem geschlossenen Raum zu sein.
»Haben Sie Ergebnisse?«
Gregor Pakullas Stimme klang ungeduldig.
»Wir haben die Adresse Ihres Bruders«, erwiderte Knobel, hielt inne und ließ seinen Mandanten den nächsten Zug tun.
»Und – haben Sie ihn gesprochen?«
»Nein. Er war nicht zu Hause.«
»Versuchen Sie es wieder!«, forderte Pakulla.
»Ich will Ergebnisse!«
»Sicher«, beruhigte Knobel. »Ich melde mich wieder bei Ihnen.«
Dann brach er die Verbindung ab.
Das inhaltsleere Gespräch hatte Knobel nicht verwundert. Ganz im Gegenteil fand er seine Ahnung bestätigt, dass er seinen Mandanten mit seiner Nachricht nicht überraschen konnte. War Pakullas Mandatsauftrag der Sache nach nichts anderes als die überschaubare Aufgabe, eine Adresse zu finden, hätte das Beschaffen eben dieser Information bei seinem Mandanten eine andere Reaktion auslösen müssen. Knobels Auftrag war es, den Bruder seines Mandanten ausfindig zu machen, und die Ermittlung seiner Wohnadresse war der erste und eigentlich wichtigste Schritt, diesen Auftrag zu erfüllen. Dies um so mehr, als Pakulla seiner Schilderung nach hier die entscheidende Information fehlte. Warum also führte die Nachricht, die Adresse herausgefunden zu haben, nicht zu der naheliegenden Frage, wo der Bruder wohne? Warum keine Frage nach der Telefonnummer, vielleicht nach Einzelheiten der Wohngegend, in der er abgeblieben war? Warum die Forderung nach Ergebnissen, wenn das entscheidende Resultat doch schon mitgeteilt worden war? Welche Ergebnisse sollten noch erzielt werden, wenn nicht das auf der Hand liegende, dass man den Bruder unter der Adresse Adlerstraße 71 antreffen werde, was nicht eine Frage weiteren Nachforschens, sondern nur eine Frage der Zeit schien? Je mehr Knobel über diese Fragen nachdachte, desto größer wurde sein Verdacht, dass mit dem Ausfindigmachen der Adresse des Bruders die Lösung des Falles eben nicht nahe lag. Das eigenartige Verhalten Pakullas in dem kurzen Telefonat ließ keinen anderen Schluss zu und zwang damit zu der weiteren Folgerung, dass Pakulla mehr über den Verbleib seines Bruders wusste, als er preiszugeben bereit war. Eigenartig war, dass sich Pakullas Mandat und Knobels Schlussfolgerungen gegenseitig ausschlossen. Welchen Sinn machte Pakullas Auftrag, wenn er möglicherweise den Aufenthaltsort des Bruders kannte? Und warum gab sich Pakulla nicht wenigstens interessiert, als Knobel ihm die Nachfrage nach der Adresse des Bruders förmlich in den Mund legte?
8
Knobel hing seinen Gedanken an Pakullas eigenartiges Verhalten nach, als er sich mit den Kollegen auf den Weg ins nahe gelegene Restaurant Dubrovnik machte. Das Mittagessen im Dubrovnik an der Kaiserstraße war ein jahrelang geübtes Ritual, bereits praktiziert, als Knobel als Junganwalt in der Kanzlei angestellt wurde, die damals noch Dr. Hübenthal & Partner hieß. Knobel war zu dieser Zeit schon bald als angestellter Anwalt in den Genuss gekommen, mit den Sozien mit zum Essen gehen zu dürfen, und nachdem seine Karriere blitzartig nach oben geschnellt, erst in Soziierung und Dienstauto und schließlich sogar in seinem Aufstieg zum namensgebenden Partner der Kanzlei sichtbar geworden war, wurde aus dem mittäglichen Gang ins Dubrovnik nicht nur ein Recht, sondern gleichermaßen eine Pflicht. Soweit nicht auswärtige Termine oder Gerichtsverhandlungen entgegenstanden, hatte man einem ungeschriebenen, aber gleichwohl unantastbaren Gesetz des Seniorpartners Dr. Hübenthal folgend als Sozius an dem Mittagessen teilzunehmen. Keine Akte konnte so wichtig, kein Fristablauf so dringend, kein Termindruck so belastend sein, als dass er ein Fernbleiben beim gemeinsamen Mittagessen hinreichend entschuldigt hätte. Stephan Knobel hatte sich dieser Pflicht eher widerstrebend gefügt. Das Essen war und blieb insbesondere Löffkes liebgewordenes Forum zur Darstellung seiner eigenen Erfolge, und die anderen Sozien waren auf diesen Zug aufgesprungen und malten in den leuchtendsten Farben ihre eigenen Erfolge aus. Das Essen im Dubrovnik war also eine geeignete Bühne der
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