Todeserklärung
es immer an dir beneidet habe, aber du hast nicht verstanden, worum es wirklich geht. Wenn ich mir etwas vorwerfe, dann ist es Folgendes: dass ich nicht hinter die Dinge geschaut habe, wie ich es hätte tun können, wenn ich reif genug dazu gewesen wäre. Und dass ich in meiner Naivität in dir ein Vorbild gesehen habe, dem ich beruflich nachgeeifert habe. Ich erinnere mich an deine steten Monologe über die Vorzüge des Anwaltsberufs, die nimmermüden Vorträge über deine brillanten Strategien, denen kein Gegner gewachsen ist. Ich habe dir gelauscht, lieber Helmut, so wie dir Lisa noch immer lauscht und glaubt. Ich bin aufgewacht, Helmut!
Trinke den Grand Cru, wenn er dir schmeckt, aber nicht, weil es Grand Cru als Wein sein muss. Ich weiß jetzt, dass deine Strategien auch nur mit Wasser gekocht werden. Heute ist mir klar, dass man sich als großer Stratege fühlen darf, wenn man einen Fall raffiniert zu Ende geführt hat. Aber ich weiß auch, dass es genau umgekehrt gehen kann, wenn man einen Fall verliert, weil man die nahe liegende Lösung nicht gesehen hat. Das sind die Schatten, lieber Helmut, und sie verfolgen dich genauso wie jeden anderen Anwalt auch. Aber du bist nur im Licht, Helmut. Und leider nicht nur als Anwalt. Du bist menschlich unfehlbar. Ein Papst aus der Dahmsfeldstraße. Kein Papstgewand, aber immer korrekt und steif. Anzug und Krawatte, die du auch in deiner Freizeit trägst. Aber ich will darüber nicht urteilen. Du sollst an Kleidung tragen, was du magst. Aber diese Dinge stehen für etwas, und du willst es auch so verstanden wissen. An unserem letzten Abend trugst du Anzughose und Krawatte und dennoch warst du plötzlich nackt. Soll ich die Begriffe wiederholen, die dir mühelos über die Lippen gingen?
Heute, lieber Helmut, weiß ich: Es sind deine Begriffe. Sie prägen deine Welt. Sag Lisa diese Begriffe, Helmut! Weihe sie in deine niedrigen Strategien ein! Öffne dabei den kostbarsten Rotwein, lass ihn atmen, bis er sich entfaltet hat, schwenke ihn und dann schenke ein, lieber Helmut! Aber nicht den Wein, sondern deine Wahrheit! Sei versichert, lieber Helmut: Ich habe Lisa nie wirklich geliebt! Das weiß ich heute. Aber ich achte sie. Und ich werde mich auf dieser Ebene mit ihr treffen. Eines Tages. Glaube es mir!
Die rechtlichen Dinge in Beantwortung deines Schreibens zum Schluss: Ich bin mit allem einverstanden! Bis auf den Umgang mit Malin. Ich werde Vater sein. Ich werde es lernen. Ein Wort, das du vielleicht nicht kennst, weil du immer schon alles wusstest.
Es grüßt dich Stephan.
Knobel nahm den Brief morgens mit ins Büro und bat Frau Klabunde, einen Briefumschlag mit der Adresse seines Schwiegervaters zu fertigen, dem Brief ein kurzes Anschreiben auf Kanzleibriefbogen beizufügen, das sie in Knobels Auftrag selbst unterschreiben solle. Frau Klabunde stutzte über diese komplizierte Vorgehensweise, insbesondere war ihr nicht klar, warum sie als Knobels Sekretärin ein Anschreiben an seinen Schwiegervater mit im Auftrag unterschreiben solle. Aber noch mehr erregte sie das Aussehen des gefalteten Schriftstücks, das ihr Knobel in die Hand drückte.
»Der Brief ist ja auf kariertem Papier geschrieben«, sagte sie mit Unverständnis und Erstaunen, sah genauer hin und setzte vorwurfsvoll hinzu:
»Und überall sind Fettflecken drauf!«
Knobel hielt seinen Brief gegen das Licht.
»Stimmt«, nickte er, »der Döner hat Spuren hinterlassen. Tüten Sie ihn trotzdem so ein!«
Frau Klabunde fügte sich wie immer mit missmutigem Ausatmen, wenn sie etwas tun sollte, was ihr widerstrebte. Knobel lächelte sie aufmunternd an und verschwand in seinem Büro.
Hoffentlich liest sie ihn , dachte er und war sofort beruhigt: Natürlich würde Frau Klabunde diesen Brief lesen!
Lisas Vater antwortete nicht auf Knobels Brief, aber drei Tage später, gerade zu der Zeit, als Knobel einen Gerichtstermin vor dem Dortmunder Landgericht wahrnahm, hielt ein Laster der Spedition Kumm vor dem Kanzleigebäude in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße. Der Fahrer des Lastwagens betrat unsicher das Kanzleigebäude, und als er sich bei der Empfangsdame nach Herrn Stephan Knobel erkundigt hatte, für den er Sachen anzuliefern habe, wollte es der Zufall, dass gerade Hubert Löffke vorbeikam, der sich des Fahrers annahm.
Natürlich war sein Vorbeikommen kein Zufall. Denn Hubert Löffke hatte bereits Knobels Brief an seinen Schwiegervater gelesen, nachdem er, seiner bereits seit einiger Zeit praktizierten
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