Todeserklärung
begriff Knobel, was vor sich gegangen war und als er sich gesammelt, aus Frau Klabundes Schilderungen eine vage Vorstellung davon bekommen hatte, was in den letzten Stunden hier vor sich gegangen war, versuchte er telefonisch seinen Schwiegervater in dessen Kanzlei am Alten Markt zu erreichen. Dessen Sekretärin gab mit weichen Worten die ihr gegebene Weisung wieder:
»Er ist nicht für Sie zu sprechen, Herr Knobel!«
Und seiner zu erwartenden Frage zuvorkommend, fügte sie hinzu:
»Und Ihre Frau auch nicht. Beide sind sehr beschäftigt. Es tut mir sehr leid!«
Dann besichtigte Knobel die Orte, an denen sein Hab und Gut verstreut im Kanzleigebäude untergekommen war und trat verunsichert in die Büros der Sozien.
Zuerst ging er zu Dr. Hübenthal.
»Ich darf doch erwarten, dass die Sachen morgen wieder weg sind«, sagte der Senior. »Es macht keinen guten Eindruck! – Wissen Sie, es nimmt Ihnen Autorität! Sie können sich doch denken, dass Sie in allen Büros zum Thema geworden sind!«
»Ich habe die Sachen nicht herbestellt«, versicherte Knobel.
»Ich glaube Ihnen, lieber Knobel! Aber es ist nun mal passiert! Es tut mir so leid, wirklich!«
Dann besuchte er den Neusozius Dr. Cornelius Dippelstedt.
»Ich habe gar nichts bemerkt«, wisperte der Kollege und wechselte mit seinen Blicken zwischen Knobel und einer Akte hin und her, die auf seinem Schreibtisch lag und ihn in seinen Bann gezogen zu haben schien. »Wirklich, wenn Sie einmal in die Tiefen des GmbH-Rechts absteigen, sind Sie voll und ganz versunken! Ich weiß also gar nicht, was vor sich geht. Es tut mir leid!«
Und mit diesen Worten beugte sich Dr. Dippelstedt mit rotem Kopf über einen dicken Kommentar zum GmbH-Recht, sah noch einmal kurz auf und lächelte unbeholfen.
Knobel ging zu Frau Meyer-Söhnkes.
»Wir sollten rechtlich Akzente setzen!«, sagte sie. »Sie müssen sich das nicht gefallen lassen! Das ist ja eine einzige Beleidigung!«
Sie nahm von einem auf ihrem Schreibtisch liegenden Aktenstapel drei oder vier Akten weg und türmte sie auf einen anderen Stapel.
»Ich hatte gleich gesagt, dass wir mit einstweiligen Anordnungen agieren sollten. Agieren ist besser als reagieren«, wusste sie.
»Wirklich, es tut mir so leid!«
Schließlich ging Knobel zu Löffke.
»Harte Nummer!«, befand Löffke und stieß Rauch aus. »Man weiß nie, wie die Menschen strukturiert sind – und zu welchen Reaktionen sie neigen. Harte Nummer!«, wiederholte er.
»Aber solche Dinge geraten in Vergessenheit. Heute redet hier jeder über Sie, vielleicht morgen noch, aber dann«, er saugte an seiner Zigarette, »irgendwann denkt da keiner mehr dran! Für heute ist es natürlich eine peinliche Situation. Einfach eine harte Nummer. Tut mir leid, ehrlich!«
22
Als Knobel um 6.30 Uhr morgens am Gründonnerstag Marie in der Brunnenstraße abholte, hatte er das Tage zuvor in der Kanzlei hinterstellte Mobiliar beim Spediteur Kumm einlagern lassen und seine Kleidung auf Maries Wohnung in der Brunnenstraße und seine eigene in der Varziner Straße verteilt, wobei ihm auffiel, dass er seine Anzüge, Hemden, Pullover, Hosen und auch die Schuhe in Maries Wohnung sorgfältig einordnete und in der Varziner Straße ungeordnet in einer Ecke stapelte. Sein halbherziger Einzug fiel auch seinem Vermieter auf und auf dessen Frage Mit Frau wieder versöhnt? zuckte er mit den Schultern und erklärte entschuldigend, dass er noch nicht wisse, ob er die Wohnung behalte.
Seine Versuche, Lisa oder den Schwiegervater zu erreichen, waren weiterhin erfolglos geblieben, und als er sich bereits damit abgefunden hatte, war es Frau Klabundes Idee gewesen, während seiner Abwesenheit selbst den Versuch zu unternehmen, beide zu erreichen.
»Es tut mir in der Seele weh, was Ihnen passiert, Herr Knobel!«, seufzte sie dabei weinerlich und blendete jeden Gedankengang aus, der sie zu der Überzeugung geführt hätte, dass es ihm nicht schlecht ging und dass der Umstand, dass etwas passierte, ihm im Gegenteil gerade gut tat.
»Und denken Sie an Ihre Tochter«, hatte Frau Klabunde ihm gestern zum Abschied gesagt, und diese Worte klangen in der Tat prophezeiend und beschwörend und würden ihn immer wieder beschäftigen. Darüber würde er auf Mallorca nachdenken und danach Entscheidungen treffen.
Marie warf einen großen Rucksack auf den Rücksitz und schwang sich dann in sein Auto. Ihre schwarzen Haare waren noch nass und dufteten nach Shampoo. Knobel lächelte. Selbst
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