Todeserklärung
mit ihr geduldig, bis sie endlich ein Taxi ergattern und in die Innenstadt von Palma fahren konnten. Marie kannte die Stadt von früheren Besuchen her, und als sie Knobel von der großen Altstadt vorschwärmte, hatte sich Knobel innerlich ein Bild davon gemacht, dabei die warmen Farben von Sebastian Pakullas Stadtbildern eingewoben und in seiner Vorstellung Formen, Farben und Stimmungen so präzise ausgefeilt, dass die Wirklichkeit, zumal im Regen, seiner Fantasie nicht standhalten konnte. Als sie an der Placa del Rei Joan Carlos I . ausstiegen, trottete Knobel Marie hinterher, enttäuscht wie ein Kind, das die wenigen Tage Urlaub, ihren ersten Urlaub überhaupt, unter bleiernen Regenwolken erstickt sah, in einer Stadt, die ihm als Zentrum südlicher Lebensfreude angepriesen worden war, bei dieser Witterung jedoch leer und trist wirkte. Die Rollen seines Koffers klackerten über die Pflasterfugen. Er hetzte Marie hinterher, folgte ihr über die Straße Can Brondo , ein kurzes Stück über die Sant Nicolau und dann in die Can Puigdorfila , bis Marie vor einem hohen schmalen Haus in der engen Straße stehen blieb. Das Schild der unscheinbaren Pension war so klein, dass man es gewöhnlich übersehen dürfte. Marie betätigte den Türknauf, der dumpf auf das Eisen an der schweren Holztür schlug, und kurze Zeit später wurden sie von einer alten Mallorquinerin empfangen, die Marie lang umarmte und sie mit einem Feuerwerk überschwänglicher Begrüßungsworte bedachte, auf die Marie mit zwei oder drei spanischen Worten antworten konnte, die Knobel ebenfalls unverständlich waren, aber mehrfach von Marie wiederholt wurden, ohne dass sie der Freude der alten Frau Einhalt gebieten konnten. Knobel sah in einen dunklen Flur, von dem eine steile Treppe nach oben führte und rechts in ein ebenfalls dunkles Wohnzimmer, das offensichtlich zur Wohnung der Frau gehörte. Drinnen leuchtete bläulich der Bildschirm eines Computers. Diese alte Frau und ein Computer: Knobel konnte es kaum glauben. Kurz darauf waren sie in einem karg eingerichteten und muffig riechenden Zimmer im ersten Obergeschoss. Knobel zog den Rollkoffer bis vor das hohe schmale Fenster, öffnete es und drückte die dunkelgrünen Holzläden nach außen, bis sie seitlich an die Hauswand schlugen. Das Zimmer war zweifellos ein Pendant zu Maries Wohnung in der Dortmunder Brunnenstraße und in seiner Ausstrahlung auf die wenigen Dinge konzentriert, die man wirklich brauchte, und die wiederum in schlichter Ausführung.
Knobel sah zum Fenster hinaus auf die hohen alten Häuser gegenüber, die rotbraun, manchmal ocker-orange und dann wieder gelblichen Fassaden mit ihren meist geschlossenen Fensterläden, betrachtete die zahllosen Wäscheleinen an den kleinen Balkonen mit ihren kunstvoll verzierten schmiedeeisernen Geländern, die Telegrafen-und Stromleitungen, die außen an den Häusern über eine Vielzahl kleiner Porzellanisolatoren geführt wurden. Mit Lisa hatte er insgesamt nur drei oder vier Urlaube gemacht. Nach ihrem Ausflug nach Brügge, bei dem sie sich verlobt hatten und in dem einfachen Hotel Montovani am Rande der Altstadt untergekommen waren, führten sie die Reisen nach ihrer Hochzeit stets in die besten Hotels und ihre letzte Reise, als Lisa bereits schwanger war, gemeinsam mit dem Schwiegervater in ein überaus nobles Golfhotel auf Lanzarote. Knobel erinnerte sich an die marmornen Badezimmer des Hotels, in denen zwei großzügige Waschbecken nebeneinander angeordnet waren, eine große ovale Badewanne, zusätzlich eine Dusche mit eingelassenen Mosaiken, Toilette und Bidet, beides aus besten Materialien.
So lässt sichs leben , stellte sein Schwiegervater damals fest, als er sein Zimmer bezogen und dann jenes von Lisa und Stephan in Augenschein genommen hatte. Ja, so ließ es sich leben, und es hatte ihm damals gefallen. Und jetzt, als er aus dem Fenster des einfachen Zimmers an der Can Puigdorfila nach draußen in den strömenden Regen schaute und eine Ruhe eingekehrt war, in der er nur noch den Regen hörte, der gleichmäßig auf das Pflaster fiel und in der engen Gasse eigentümlich laut und dennoch beruhigend widerhallte, gefiel ihm dies auch. Irgendwann spürte er Marie hinter sich stehen, er griff nach hinten und fasste ihre Hände, führte sie vor seinen Bauch und knetete sie sanft, zog Marie näher an sich heran und fühlte, dass sie nackt war. Er sog dieses Gefühl in sich ein und wünschte, dass er sich ein Leben lang an diesen Moment erinnern
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