Todeserklärung
das gläserne Häuschen ins Visier, das so aussah, wie jedes andere moderne Wartehäuschen irgendwo in Europa. Schlicht und funktional, darin ein paar Halbschalensitze aus geflochtenem Stahl. Ein Papierkorb noch, das wars. Und dann entdeckte er den Reklamekasten an der seitlichen Innenwand des Wartehäuschens, der direkt in ihrem Blickfeld lag. Ein einfacher Kasten, hinter dessen Frontscheibe sich die auf Folie gedruckte Reklame befindet und abends von hinten beleuchtet wird. Er stutzte beim Anblick des Motivs. Es kam ihm bekannt vor.
»Die Reklame?«, fragte er.
»Es ist keine Reklame, Stephan! Es ist ein Stadtplan von Sa Pobla, jedenfalls zeigt er alle Straßenzüge rund um den Bahnhof. Und wie man auf den ersten Blick sieht, ist die Stadt im Wesentlichen von gradlinigen Straßen durchzogen, die sich annähernd im rechten Winkel kreuzen und die rotbraun gezeichneten Häuserblocks einschließen. Die gradlinigen Straßen sind ein Merkmal dieser Stadt! Sieh nur in den Reiseführer …!«
»Die Straßen bilden ein gleichförmiges Raster«, bestätigte er und sah genauer auf den Stadtplan.
»Und das Raster wird diagonal bis zur Mitte durch eine Schwarz-Weiß-Linie durchschnitten. Das dürfte die Eisenbahnlinie sein.«
Knobel schwieg einen Moment.
»Du meinst, der Stadtplan ist das Gefangene Herz ?«
»Stephan, es ist das Bild! Man erkennt es nur deshalb nicht auf den ersten Blick, weil Sebastians Ölbild die Szene zu allen Seiten gleichförmig fortsetzt und die Straßen nur als dünne schwarze Linien auf gelbem Untergrund dargestellt werden. Mit der Farbe gelb assoziiert man keine Wohnbebauung, so wie sie auf einem Stadtplan dargestellt ist. Deshalb konnten wir auch nicht darauf kommen, dass es sich um einen Stadtplan handelt!«
Sie stellte den Motor ab und sprang aus dem Auto, lief zur Bahnstation und über eine kleine neben dem Gebäude befindliche Treppe auf den Bahnsteig. Knobel folgte ihr, und zusammen blickten sie nach links auf die eingleisige Bahnstrecke, die schnurgerade aus der Stadt herausführte, soweit sie sehen konnten. Sie wandten sich nach rechts und sahen am Ende des Bahnsteigs den Prellbock, das Streckenende. Eine Bahnlinie, die schnurgerade in die Stadt hineinführte. Ein einziges Gleis nur, das aus dem Nichts in die Stadt führte und stumpf am Prellbock endete.
»Das Eisenbahngleis führt sozusagen schräg in die Stadt. Es ist zu keiner der umliegenden Straßen parallel. Das ist der Spieß in Sebastians Bild!«
Knobel betrachtete die Bahnstrecke und die eintönigen Häuser ringsum. »Dann steht S. P. unten rechts auf dem Bild für Sa Pobla und nicht für Sebastian Pakulla «, folgerte er.
»Genau!«
»Das ist natürlich ein unglaublicher Zufall!«
Marie sprühte vor Eifer, zog ihn die Treppe herunter, rannte mit ihm zum Auto zurück und holte ihre Digitalkamera hervor.
»Ich habe das Bild noch gespeichert«, sagte sie und fingerte ungeduldig an der Kamera herum, bis sie ihm das Foto von Sebastian Pakullas rätselhaftem Bild vor die Augen halten konnte.
»Siehst du, man erkennt das Ende der Bahnlinie. Und rechts und links, oben und unten die etwa gleich großen viereckigen Häuserblocks. Die Straßen sind in etwa gerade und kreuzen sich annähernd rechtwinklig. Wie im Original. Zu den Rändern hin hat Sebastian das Motiv erfunden fortgeführt. Aber das Zentrum des Bildes, also um den Bahnhof herum, ist in seiner Struktur richtig wiedergegeben. Die wenigen Straßen, die dem Raster widersprechen, hat er abstrahierend weggelassen, so wie etwa die Straße, die in gerader Fortsetzung der Eisenbahnlinie in den Ort weist. Vermutlich führte die Bahnlinie früher weiter. Wenn also Sebastians Bild eine abstrakte Wiedergabe eines Teils des Stadtplans von Sa Pobla ist und zumindest in etwa die Umgebung rund um den Bahnhof darstellt, dann spricht alles dafür, dass das rote Herz auf dem Bild keine eingesperrte Liebe ist, sondern den Wohnort des Herzens markiert. Ich glaube nicht, dass er das Herz irgendwo in das Straßennetz von Sa Pobla platziert hat. Es wohnt in der unmittelbaren Nähe des Bahnhofs. Ansonsten macht die Bahnlinie auf seinem Bild keinen Sinn.«
Sie drehte die Digitalkamera, bis das Motiv auf dem kleinen Bildschirm mit dem Blickwinkel in der Wirklichkeit übereinstimmte. »Die Eisenbahn kommt von links unten, also aus unserer Sicht von hinten«, erklärte sie und blickte abwechselnd nach vorne und auf das Bild in ihrer Kamera.
»Das Bild ist in der Kamera zu klein, ich kann nicht
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