Todesfalter
Helena machte große Augen. »Ein Kobold?«, fragte sie. Ihre Stimme kiekste vor Aufregung. »Oder ein Toter, der wiederkommt?«
»Geh, wo hast du nur so einen Unfug her«, sagte Anna barsch und gab ihr eine Kopfnuss, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Hatte sie doch oft genug selbst derartige Geschichten erzählt, zuletzt der Nachbarsmagd, die gekommen war, ihr beim Absengen der Federn einiger Krammetsvögel zu helfen, die Maria geschenkt bekommen hatte. Damals war’s um einen Kutscher gegangen, den Räuber erschlagen hatten und der in der Nacht an die Türen der Poststationen kam, um anzuklopfen. So lange, bis er in einem Wirtshaus seine Mörder fand, die blass vor Furcht alles gestanden und verhaftet wurden. Hatte das Kind damals doch heimlich zugehört! Anna seufzte. Aber schlimmer als ihr schlechtes Gewissen war die Furcht, genauso könne es sein: dass die Herrin als bleicher Schemen draußen stand und klagend nach ihrem Kind verlangte. Ach, hätte sie den Diakon neulich doch nur Weihwasser segnen lassen. Und hätte sie ihn doch nicht in das Zimmer der Herrin geführt, als ihre Präparate offen auf dem Tisch lagen. Vielleicht war es ja ein Fluch, den der geistliche Herr ausgesprochen hatte, als er all die Tierleichen sah. Hatte er gebetet, hatte er einen Bannspruch getan, der sie jetzt traf? Und sie, Anna, hatte alles falsch gemacht! Oder war das vorhin nur ein Frühlingsgeist, der alte Frauen neckte, wenn sie des Nachts ihren Kopf zur Tür hinaussteckten?
»Dummes Ding!«, schimpfte sie Johanna Helena und schubste sie, zog sie dann aber gleich wieder an sich. »Ach, du armes, armes Kind. Was soll nur aus uns werden?«
»Wir müssen die Mama reinlassen.« Johanna wollte aufstehen.
»Das ist nicht die Mama.« Anna sprach mit Grabesstimme.
Da, da war es erneut, das Klopfen, dann ein Rascheln, als striche etwas über Holz. Und da, waren das Stimmen? Flüstern? Füße auf dem nackten Grund? Es trappelte, es rappelte.
»Die Kobolde!«, rief Johanna Helena. »Die will ich sehen.« Sie zog und zerrte so lange an den Röcken der Magd, bis die endlich nachgab. Am Ende war’s der Herr, wieder betrunken, und es fiel auf sie, wenn sie ihn draußen liegen ließ. Alles machte sie falsch, die alte Anna, würde es heißen. Brummelnd, abwechselnd sich bekreuzigend und beruhigende Worte murmelnd, schlurfte sie zur Tür. Das Kind schlenkerte die Lampe, dass ihr Schein über die Flurwände flitzte. Lenchen tanzte um die alte Magd herum, verlor aber im letzten Moment den Mut und versteckte sich hinter Annas Schürze. Wenn’s ein Leichnam war, durfte sie ihm nicht in die toten Augen sehen, sonst kam er sie in ihren Träumen holen. Das wusste jeder.
»Iiiiiiih!«, kreischte sie in ohrenbetäubendem Diskant und schlug sich die Hände vor die Augen, noch ehe Anna überhaupt den Schlüssel gedreht und das Tor aufgedrückt hatte. Sie übertönte das Quietschen, mit dem die Tür aufschwang.
Stille. »Anna?«, fragte Johanna Helena und linste durch die Finger. Vor der Tür war alles dunkel, nur in einigen Fenstern gegenüber sah man Licht flackern. Niemand stand im Lichtkreis der Lampe, die Anna nun hochhielt.
»Ich weiß nicht …«, begann die Magd. Da sah sie es. »Jesusmaria!« Sie umschlang das Kind und drückte es fest an sich.
Johanna Helena wollte noch einmal schreien. Aber diesmal kam kein Laut aus ihrer Kehle. Fassungslos stand sie vor der Tür, an die jemand einen großen schwarzen Vogel genagelt hatte. Seine Schwingen waren ausgebreitet, sein Kopf hing herab, und vom Schnabel löste sich eben ein letzter Blutstropfen.
»Was ist denn hier los?«, fragte eine müde Stimme.
»Mein Gott!« Anna erschrak so sehr, dass sie nicht mehr herausbrachte.
Mit blassem Gesicht trat Maria Sibylla Merian aus dem Dunkel.
24
»Mama!« Jetzt schrie Lenchen doch. Aufweinend stürzte sie sich auf ihre Mutter und umklammerte ihre Knie so heftig, dass Maria Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Sie umarmte das Kind, bis es sich ein wenig beruhigt hatte, dann schob sie es der Magd zu und richtete sich wieder auf. Mit wenigen Bewegungen nahm sie den Vogel von der Tür ab, wendete ihn dann in ihren Händen hin und her. »Eine Saatkrähe«, sagte sie, als wäre es das Wichtigste gewesen, das Tier zu bestimmen. Sie betrachtete den Schnitt, der durch die Kehle des Vogels ging und den Kopf fast abgetrennt hätte. »Halt die Lampe höher, Anna.«
Im Lichtschein sah sie einige Maden sich in der Wunde winden. »Die sehen vielversprechend
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