Todesfalter
konnte Maria Sibylla lange nicht schlafen. Und als es ihr endlich gelang, hastete sie durch wilde Träume. Die meiste Zeit über packte sie ihre Sachen. Sie stapelte Bücher und ordnete Pergamente, die sich nicht ordnen lassen wollten und sich immer wieder über- und durcheinander schoben. Sie suchte nach Zeichenmappen, nach Instrumenten und Drucken, raffte alles zusammen und versuchte Platz dafür in viel zu wenigen und viel zu kleinen Kisten zu schaffen. Wohin es gehen sollte und warum sie überhaupt verreisen wollte, war ihr dabei niemals klar; sie stellte sich die Frage auch nicht, arbeitete nur verbissen gegen das tanzende Chaos ringsum an. Am längsten hatte sie mit den Schächtelchen zu tun, in denen ihre Präparate lagerten. Sie stellten ein kleines Guthaben dar, sollten sie doch noch verkauft werden an Forscher, Sammler und reiche Dilettanten. Aus irgendeinem Grund musste Maria wissen, was in welcher Schachtel war – oder suchte sie etwas Bestimmtes? Sie öffnete mit zitternden, ungeschickten Fingern eine widerspenstige Schachtel nach der anderen, ließ die eine fallen, zerrte an der anderen herum, zerdrückte die eine und bekam die andere nicht auf. In jeder, die sich öffnen ließ, lag etwas Totes, ein Stück schwarzer Traurigkeit: vergilbter Pelz, ein getrockneter Fühler, Flügelstaub, der seinen Glanz verloren hatte, dunkles Blut an den Flügeln einer Motte, ein blaues Tuch, das davonflog. Falter um Falter erhob sich, flatterte an ihrem Gesicht vorbei und stieg auf in die Luft, seine Flugbahn ein Kichern, sein Flügelschlag ein Gewisper. Ohne Gesichter sahen die Schmetterlinge auf sie hinab und unterhielten sich, flüsterten und lachten. Maria duckte sich. Schutzsuchend wollte sie die Arme um sich schlagen, da griff sie auf ihrer Schulter in Staub, der Pfauenaugen formte. Nun waren sie unwiderbringlich zerstört. Entsetzt starrte sie auf ihre Finger.
»Maria? Maria, was ist?« Andreas hatte sich neben ihr aufgesetzt und schaute sie schlaftrunken an.
Sie sprang aus dem Bett, fort von ihm, fort von dem Weindunst, fort aus der engen Holzkiste. Sie öffnete das Fenster und sog hastig die kalte Nachtluft ein. Der Himmel war schwarzblau, ohne eine Spur von Morgen, und die Vögel schwiegen alle.
»Willst du uns umbringen?«, hörte sie es hinter sich brummen.
Rasch griff sie nach ihren Kleidern auf der Truhe und machte sich barfuß auf den Weg. Flur und Treppe waren finster und kalt. Erst in der Küche begrüßte sie ein Hauch von Wärme und Licht, den der dunkelorangefarbene Rest des Herdfeuers mit seiner schwarz geränderten Glut spendete.
Maria kleidete sich an, dann saß sie lange da, wie eine Statue, die Hände im Schoß gefaltet. Sie könnte das Feuer neu entfachen, sich noch einen Kräuteraufguss kochen. Aber ihr war nicht danach. Sie könnte die Lampe in der Küche entzünden und in ihr Zimmer tragen, um dort Zuflucht zu finden. Doch der Gedanke an das pochende Schlagen von Flügeln gegen geschlossene Deckel, an die Gesichter aus Staub und das Kichern von Toten, die unter der Decke schwebten, ließ sie davon Abstand nehmen. Maria Sibylla zog unwillkürlich ihr Umschlagtuch enger. Es war dieselbe Geste wie im Traum. Sie zuckte zusammen, sprang auf und wurde erst wieder ruhig, als sie dicht über die Glut geneigt ihre Hände genau untersuchte. Kein Staub und kein Schatten waren daran zu sehen. Maria rieb noch am kleinsten Fleckchen herum. Jetzt, wo sie stand, fühlte sie sich noch mehr aus der Welt gefallen. Es gab nichts, was sie hätte tun wollen, nichts, wo sie sich wohlgefühlt hätte.
Der Garten!, fiel es ihr ein. In ihrem Garten unterhalb der Burg würde sie zur Ruhe kommen. Sie kannte jedes Blatt, jedes Aroma dort. Und in bestimmt nicht länger als ein, zwei Stunden würde es hell werden. Sie könnte sich mit dem Rücken an die Sandsteinmauer setzen, auf den sandigen Fleck, den sie gern hatte, den hohen Himmel über sich betrachten, der sie nicht einsperrte, und den Duft der Melisse einatmen.
Nur sehen durfte sie auf dem Weg dorthin niemand, die Leute hielten sie ohnehin schon für verrückt. Aber wenn sie leise ging und kein Licht mitnahm … Wer außer ihr sollte noch auf den Straßen sein? Dem Nachtwächter wollte sie schon ausweichen. Und die Männer des Viertelmeisters waren nicht so pflichtbewusst, regelmäßige Gänge zu unternehmen. Marias Entschluss stand fest. Es waren ja nur wenige Schritte. Sie zündete nun doch eine Lampe an und stellte sie an den unteren Treppenabsatz, um
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